Szenische Lesung in den Neuen Kammerspielen: Wundgescheuert im Corona Home-Office!
Eigentlich wollte das Anfang 2017 gegründete Kammertheater Kleinmachnow in diesem Jahr ja das Stück „Rettet Elektra“ von Peter Schottke spielen. Jörg Klein: „Wir haben den Text gelernt, hatten Ideen – und dann kam Corona. Für Corona war das Stück dann doch zu komplex und zu genial. Wir haben es deswegen auf das kommende Jahr geschoben. …
… Stattdessen haben wir in nur fünf Wochen das neu verfasste Stück ‚Home Office – Du machst Dir kein Bild!‘ von Bernd Spehling einstudiert.“
„Home Office“ ist ein Theaterstück, das sich ganz dem Thema Corona widmet und die verschiedenen Auswirkungen auf die Menschen von sämtlichen Seiten beleuchtet. Am 29. Oktober war Welturaufführung in den Neuen Kammerspielen in Kleinmachnow. Eigentlich sollte das Stück drei Mal in Folge gespielt werden. Aber die Wirklichkeit holte die Fiktion ein – die letzte von drei angesetzten Aufführungen musste dem erneuten Shutdown im November weichen.
Jörg Klein: „Da wir nicht genügend Zeit hatten, um alle Texte auswendig zu lernen, verstehen wir ‚Home Office‘ als szenische Lesung.“ Das bedeutete, dass die sieben Schauspieler auf der Bühne immer auch einen Zettel mit dabei hatten, um ihren Dialog abzulesen. Diese kleine Lesehilfe hatten die Schauspieler aber gut in ihre jeweiligen Szenen integriert – und geschickt hinter verschiedenen Bühnenaccessoires verborgen.
Worum geht es? Im Mittelpunkt von „Home Office“ steht tatsächlich nicht das private Büro in den eigenen vier Wänden. Stattdessen treffen sich die Menschen auf zwei Bänken im öffentlichen Park – und klagen sich hier gegenseitig ihr Leid. Da ist der Justizfachangestellte Rüdiger (Michael Esser), der eigentlich ins Home Office geschickt wurde, den Tag aber lieber auf der Parkbank verbringt, damit er nicht zu seiner Frau nach Hause muss. Rentnerin Hiltrud (Dagmar Keck) weiß nicht, was sie nun mit ihrer Zeit anfangen soll, jetzt, da alle Kreuzfahrtreisen abgesagt sind. Schauspieler Piere D‘Arc (Jörg Klein) vermisst seine Aufführungen, die Sozialwissenschaftlerin Carmen (Friedrike Schröder) ist in die Obdachlosigkeit abgeglitten und Joggerin Katja (Petra Ostrowki) huldigt hemmungslos dem Fitnesswahn. Und was macht die Bürogerätemechanikerin Daniela (Cornelia von Hammerstein)? Sie entdeckt die Liebe. Die städtischen Parkmitarbeiter Anja (Jutta Lammers) und Hotte (Detlef Keck) haben jedenfalls alle Hände voll damit zu tun, den Corona-induzierten Irrsinn zu beobachten und in geregelte Bahnen zu lenken.
Eine Rolle musste auf die Schnelle neu besetzt werden. Auch hier griff Corona direkt in die Dramaturgie des Stücks ein. Jörg Klein: „Unsere Jutta ist unser jüngstes Theatermitglied. Sie wär so gern mit dabei gewesen, musste aber tatsächlich im Home Office bleiben – sie steht gerade unter Quarantäne.“
Das Stück „Home Office“ bringt spannende Figuren auf die Bühne, überzeugt aber noch viel mehr mit ebenso kleinen wie feinen Corona-Beobachtungen. Hätte man diese noch vor einem Jahr auf die Bühne gebracht – niemand hätte sie verstanden. Erst jetzt gibt es einen Waschzwang mit Schnüffelsucht: „Ich kann ohne den Geruch von Desinfektionsmitteln nicht mehr einschlafen.“
Erst zu Corona-Zeiten parkt man die vierjährige Tochter stundenlang vor dem Fernseher, damit man im Home Office endlich einmal etwas wegarbeiten kann. Und erst jetzt lernt man, bei der Videokonferenz von unten in die Kamera zu gucken, damit das Doppelkinn nicht so schwabbelt. Das Stück beleuchtet die Krux der Kontaktsperre bei frisch Verliebten, geht auf die Bedeutung von Dr. Google ein und sagt den Männern ganz klar: „Ihr seid ja gar nicht systemrelevant, sondern eher ein Risiko.“ Dagegen ist immerhin ein Kraut gewachsen: „Die in der Gastronomie bestellte doppelte Weißweinschorle ist ab sofort erste Bürgerpflicht. Da sind wir mit unserem Trinkverhalten dann doch wieder systemrelevant.“ Auch die Gefahr des hemmungslosen Zunehmens wird zum Thema: „Diät in Coronazeiten geht so: Nach dem Reinstopfen schell hochspringen, damit sich die Kalorien nicht festsetzen können.“ Sogar die frisch ausgezogene Tochter entwickelt per WhatsApp ihre ganz eigene Corona-Strategie: „Papi, überweis mir doch mal 200 Euro, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“
Und wenn das alles bei einer Home-Office-Phobie nicht so recht funktionieren mag und die Kollegin vor der Videokonferenz hin und her läuft wie eine Dauercamperin vor dem Gemeinschaftsklo, ja, „dann können wir so etwas wie Corona eben nicht noch mal machen.“
„Home Office“ bringt einen ganzen Strauß wunderbarer Bonmots mit, die auch ohne Corona bestens funktionieren. Wenn die kreuzfahrende Rentnerin sagt: „Ich bin gerade in der Phase zwischen gepflegt fahren und gepflegt werden“ oder die frustrierte Ehefrau von sich gibt: „Auf die Männer, die wir lieben – und die Penner, die wir kriegen“, dann ist das verdammt lustig.
Zum Ende hin bewegt sich das Stück weg vom genüsslichen Corona-Lästern und zeigt die Vorteile der neuen Welt auf. Alles wird gut, lautet die Prämisse. Das entlässt die Zuschauer zwar mit einem positiven Gefühl in die private Corona-Blase, verpasst aber so die Chance, sich noch hemmungsloser in der eigenen Corona-Depression zu suhlen. (Text/Fotos: CS)
Info: Neue Kammerspiele, Karl-Marx-Straße 18, 14532 Kleinmachnow, www.kammertheater-kleinmachnow.de
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 80 (11/2020).
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