Freitod am Stolper Loch: Freilicht-Lesung am Kleinen Wannsee zum Kleist-Tag!
Am 21. November ist in jedem Jahr aufs Neue Kleist-Tag. Wer sich bislang noch nie mit dem 1777 in Brandenburg geborenem Heinrich von Kleist beschäftigt hat, geht vielleicht davon aus, dass der 21. November sein Geburtstag ist. Oder ein wichtiges Datum markiert, an dem Kleist vielleicht sein historisches Ritterschauspiel „Käthchen von Heilbronn“, das Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ oder die Novelle „Die Marquise von O….“ verfasst hat.
Aber nein. Der Kleist-Tag ist der Tag, an dem Heinrich von Kleist gestorben ist. Und zwar nicht still und leise an einer Krankheit oder im hohen Alter, sondern jung und mit einem lauten Knall. An diesem Tag im Jahr 1811 erschoss Kleist direkt am Ufer vom Kleinen Wannsee zunächst seine gute Freundin Henriette Vogel, bevor er die Pistole gegen sich selbst richtete.
Heinrich von Kleist und Henriette Vogel wurden fast direkt an Ort und Stelle beerdigt. Das Kleist-Grab am Kleinen Wannsee ist seitdem ein Pilgerort für viele Kleist-Freunde, die sich in seinen Texten wiedergefunden haben. Seinen Ursprung hat das Kleist-Grab aber in dem Umstand, dass es für den Selbstmörder damals keinen Platz auf einem normalen Friedhof gab – das hatte die Kirche aus religiösen Gründen verboten. In ihrem Abschiedsbrief bat Henriette Vogel darum, zusammen mit Kleist beerdigt zu werden – obwohl sie mit einem anderen Mann verheiratet war. Diesem Wunsch wurde damals stattgegeben.
Doch warum erwählten der bekannte Schriftsteller und die junge Frau eigentlich diesen speziellen Freitod? Bei Henriette Vogel lag der Grund in ihrer Krankheit begründet – sie litt unheilbar an Gebärmutterhalskrebs. Und Heinrich von Kleist war 1811 – im Jahr seines Todes – alles andere als erfolgreich und vermögend gewesen. Er musste Freunde und Bekannte um Geld anbetteln und miterleben, wie seine Berliner Zeitung wegen verschärfter Zensur eingestellt und seine Theaterstücke auf lange Sicht verboten wurden. Beiden war anscheinend auch eine gewisse Todessehnsucht zueigen. In einem Brief vom 10. November 1811 schrieb Kleist, dass er sich innerlich so wund fühlte, „dass mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert.“
Wolfgang Immenhausen, Gründer der „Mutter Fourage“ in Wannsee: „Wir hatten damals in der ‚Mutter Fourage‘ eine große Ausstellung über Heinrich von Kleist vorbereitet. Die Eröffnung fiel allerdings direkt mit dem damaligen Mauerfall zusammen. Da gab es auf einmal sehr wenig Interesse für Kleist. Seit 1989 hat die Galerie aber jedes Jahr eine Veranstaltung passend zu seinem Todestag organisiert.“
In diesem Jahr fand die Veranstaltung der „Mutter Fourage“ im Berliner-Ruderclub direkt an der Bismarckstraße 4 am kleinen Wannsee statt. Warum? Weil es direkt hier am Ufer zu den geschichtsträchtigen Pistolenschüssen am 21. November 1811 gekommen war. Das Kleist-Grabmal ist direkt auf dem nebenliegenden Grundstück zu finden. Näher dran an diesem speziellen Ort deutscher Geschichte konnte man demnach am Kleist-Tag nicht sein.
Dr. Veit Quack, Pressesprecher vom Berliner Ruderclub: „Eine Lesung passend zum Kleist-Tag hat bei uns schon eine gewisse Tradition. Im letzten Jahr haben wir bis zu 90 Besucher bei uns begrüßen dürfen. Aufgrund der Corona-Einschränkungen mussten wir uns in diesem Jahr allerdings auf 25 Besucher beschränken – wegen der Sicherheitsabstände. Wir haben die Veranstaltung deswegen auch draußen stattfinden lassen und nicht im Haus. So waren wir zwar näher dran am Ort des Geschehens. Dafür mussten unsere Gäste aber mit der Kälte zurechtkommen.“
Gegen die Kälte brannte immerhin ein prasselndes Feuer in einer Schale. Und es wurde Rumgrog für „acht Groschen“ ausgegeben. Denn der wurde damals auch in den Wirtschaften gereicht.
Die Veranstaltung am 21. September begann pünktlich um 16 Uhr. Das war laut Polizeibericht der Todeszeitpunkt von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. Veit Quack: „Da halten wir uns dann auch dran.“
Andrea Schmidt war eine der interessierten Besucherinnen vor Ort: „Ich bin vor fünf Jahren nach Berlin gezogen und wohne nun gleich gegenüber vom Kleist-Grab. Als ich damals hergezogen bin, führte mich mein allererster Weg gleich zum Grab. Ich bin darüber hinaus sehr verbunden mit der ‚Mutter Fourage‘. Für uns in Wannsee ist das so etwas wie unsere Nationalgalerie, da finden immer tolle Veranstaltungen statt. Gerade in Corona-Zeiten sind wir doch alle ganz ausgehungert nach Kunst und Kultur. Von der Freilicht-Lesung vom Kleinen Wannsee hatte ich erst eine Stunde vor dem Start erfahren und bin dann noch ganz spontan hingegangen.“
„Mutter Fourage“-Ur-Gestein Wolfgang Immenhausen stimmte die Besucher auf die kulturelle Veranstaltung ein und übergab das Wort dann an Lorenz Krieger. Der junge Schauspieler trug einen Text von Kleist vor, den dieser wohl zunächst für ein Magazin verfasst hatte, der tatsächlich aber erst posthum veröffentlicht wurde: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Der Inhalt der feingeistigen Kleist-Schreibarbeit: Es lohne sich, über Probleme einfach mit einem anderen Menschen zu sprechen, um bei diesem Vorgang selbst und ohne Beihilfe des Gegenübers zur Lösung zu finden. Das Fazit: „Die Idee kommt beim Sprechen“.
Anschließend kümmerte sich Wolfgang Immenhausen um den leicht morbiden Teil des Abends. Beim Schein des Feuers las er direkt aus dem Polizeibericht und dem Vernehmungsprotokoll vom November 1811 vor. Damals hieß der Kleine Wannsee noch Stolper Loch. Und die Zeitzeugen, die über die letzten Stunden von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel Bericht geben konnten, die kamen vom Gasthof „Stimmings Krug“ – gleich auf der anderen Seite des Gewässers. Hier hatten sich die beiden Todes-Aspiranten eingemietet, hier schrieben sie auch ihre Abschiedsbriefe. Zeugen berichteten, dass Kleist und Vogel ein Boot mieten wollten, um auf die andere Gewässerseite zu wechseln. Da kein Boot zu vermieten war, liefen sie über die Brücke – vergnügt, sich neckend und laut Kosenamen rufend. Kurz darauf fallen zwei Schüsse. Der 34-jährige Heinrich von Kleist hatte seiner Begleiterin in die Brust geschossen und sich dann selbst die Pistole in den Mund gesteckt.
Zum 200. Todestag des Dichters wurde die Grabstätte neu gestaltet. Sie ist inzwischen auch ein Ehrengrab Berlins. (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 81 (12/2020).
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