Kulturspaziergang in Steglitz-Zehlendorf: Zu Besuch in der historischen Villen-kolonie Lichterfelde!
Bereits als Bezirksbürgermeisterin von Steglitz-Zehlendorf startete Cerstin Richter-Kotowski eine neue Tradition – und lud die Bürger regelmäßig zu äußerst informativen “Kiezspaziergängen” durch die Nachbarschaft ein. Als Bezirksstadträtin für Bildung, Kultur und Sport führt sie die Informationsveranstaltungen fort – nun aber als “Kulturspaziergänge”. Am 2. September trafen sich knapp 40 Interessierte am S-Bahnhof Lichterfelde-West zu einem zweistündigen Spaziergang durch die historische Villenkolonie Lichterfelde.
Auf dem Weg zur Arbeit, nach Hause, zum Sport oder zum Einkaufen findet man nur selten die Muße, den Blick nach rechts oder nach links zu wenden. Das ist sehr schade, denn Steglitz-Zehlendorf ist tatsächlich ein Ort voll allgegenwärtiger Geschichte. In allen acht Ortsteilen des Bezirks warten spannende, lehrreiche und auch erschütternde Geschichten darauf, gehört und ergründet zu werden.
Die Bezirksstadträtin Cerstin Richter-Kotowski unternimmt ganz in diesem Sinne gern ausgedehnte Spaziergänge durch die Straßen von Steglitz-Zehlendorf, um der Geschichte nachzuspüren. Was sie dabei alles entdeckt hat, gibt sie gern an die Bürgerinnen und Bürger weiter. Und lädt sie regelmäßig zu kostenfreien Kulturspaziergängen ein. Um teilzunehmen, ist nur eine vorherige E-Mail-Anmeldung nötig.
In den letzten Monaten besuchten die Teilnehmer zu Fuß das Steglitzer Kulturviertel. Sie erforschten den Dorfkern Dahlem, erkundeten den Wannsee und nahmen “die Alliierten Route durch Zehlendorf”.
Der siebente Kulturspaziergang stand unter dem Motto “Die historische Villenkolonie Lichterfelde”. Am 2. September trafen sich um 12 Uhr mittags fast 40 Teilnehmer vor dem S-Bahnhof Lichterfelde-West.
Für die ersten Informationen mussten die Zuhörer keinen einzigen Schritt laufen. Denn es ging zunächst um das Bahnhofsgebäude.
Cerstin Richter-Kotowski: “Das Bahnhofsgebäude steht hier seit 1873, es wurde im toskanischen Landhausstil gebaut. Im Bahnhofsgebäude selbst wohnten damals übrigens auch der Bahnhofsvorsteher und seine Familie. Bis 1945 fuhren hier die sogenannten ‘Bankierszüge’, die direkt von Zehlendorf aus zum Potsdamer Platz rollten. Während des Kalten Krieges bauten die Amerikaner den westlichen Teil des Bahnhofs zu einem Militärbahnhof um. Das Bahnhofsgebäude ist heute in Privatbesitz.”
In der Berliner Gründerzeit wurde um einen neuen Bahnhof herum stets auch ein eigenes Versorgungszentrum gebaut – als zentrales Einkaufsgebiet für die Nachbarschaft. So ist 1897 der “West-Basar” entstanden. Die Bezeichnung ist auch heute noch deutlich an einer Hausfassade zu lesen.
Cerstin Richter-Kotowski: “In Lichterfelde-Ost stand das Pendant – der Ost Bazar. Er wurde 1891 am Jungfernstieg erbaut, aber im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und 1955 final abgerissen.”
Dass die Villengegend in Lichterfelde-West überhaupt entstehen konnte, muss man dem Unternehmer Johann Anton Wilhelm von Carstenn danken. Er kaufte 1865 die beiden Dörfer Lichterfelde und Giesensdorf samt der umliegenden Liegenschaften, fasste sie zusammen und legte Straßen und vielen kleine Plätze an. Mit der Villenkolonie Lichterfelde entstand damit eines der inzwischen ältesten Villenviertel in Berlin.
Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 gab es allerdings eine große Wirtschaftskrise in Deutschland. Carstenn verschenkte in der Folge sogar Land, um trotz der schwindenden Finanzmittel weitere Bewohner nach Lichterfelde zu locken. Seine Bedingung dafür war allerdings, dass Lichterfelde eine Kadettenanstalt bekommt. Die Gelder zur Errichtung der dafür nötigen Gebäude stellte er ebenfalls zur Verfügung.
Gleich um die Ecke steht an der Curtiusstraße 6 ein aufwändig und in bunten Farben bemaltes Haus. Cerstin Richter-Kotowski: “Das Haus wurde vom Architekten Wilhelm Sander gebaut und anschließend auch bemalt – für den Tuchfabrikanten Paul Emisch, der 1900 nach Lichterfelde-West zog, um hier als Bankier zu arbeiten. Das Haus wird deswegen auch als Emisch-Haus bezeichnet.”
Die Malerei zeigt die Bibelgeschichte der Arche Noah. Ergänzt wurden die Malereien mit dem Familienwappen der Emischs. Es zeigt Greifvögel und Emischs Tochter, die die Sonne in der Hand hält.
Deutlich ernster wurde es in der Baseler Straße 13. Das Haus an dieser Stelle wurde 1902 gebaut. Der Pächter Max Wygodzinski errichtete hier ein “israelitisches Lehrerinnenwohnheim”.
Cerstin Richter-Kotowski: “In den damaligen Zeiten durften Frauen nicht mehr arbeiten, sobald sie geheiratet hatten. Vor allem Lehrerinnen haben aus diesem Grund oft nicht geheiratet, damit sie weiter in der Schule arbeiten dürfen.” In dem Lehrerinnenwohnheim durften erwerbsunfähige Frauen bis an ihr Lebensende wohnen. Das Haus musste aber 1942 an die NSDAP “verkauft” werden. Mehrere jüdische Bewohnerinnen des Hauses wurden im gleichen Jahr deportiert. Messingfarbene Stolpersteine im Fußgängerweg vor dem Haus sorgen dafür, dass ihre Namen nicht vergessen werden.
Cerstin Richter-Kotowski erklärte den Mit-Spaziergängern die typische Struktur der vielen Lichterfelder Villen mit einem erhöhten Kellergeschoss, zwei Wohnetagen und einem ausgebauten Dach für die Bediensteten. Durch den Umstand, dass viele Architekten vor Ort gewirkt hatten, erscheint trotz der gleichen Bauweise jede Villa ganz individuell.
Einer der Architekten, der in Lichterfelde tätig war und hier tatsächlich auch wohnte, war Gustav Lilienthal – der Bruder vom großen Flieger-Pionier Otto Lilienthal. Cerstin Richter-Kotowski: “Gustav Lilienthal hat in Lichterfelde etwa 30 Häuser gebaut, 16 von ihnen stehen unter Denkmalschutz. Er baute seine Villen im Tudorstil mit angedeuteter Zugbrücke. Er lebte bis zu seinem Tod in der Marthastraße 5. Sein eigenes Haus stellte er als Musterhaus zur Verfügung, er wollte die Leute so nach Lichterfelde locken. Das war schon ein schlaues Marketing.” Zur Architektur Lilienthals sagte die Bezirksstadträtin: “Man muss es schon mögen.”
Dass die Grundstücke in Lichterfelde-West noch immer so weitläufig sind wie damals in der Gründerzeit, sei ein echter Glücksfall, so Cerstin Richter-Kotowski: “Zu DDR-Zeiten sollte neues Bauland erschlossen werden. Man plante, die Grundstücke in Lichterfelde so zu zerschneiden, dass eine Hammerbebauung möglich wird. Für diesen Plan gab es eine große Gegenwehr. Am Ende wurden die Grundstücke unter einen Ensembleschutz gestellt.”
Interessant wurde es am Paulinenplatz. Das ist einer von vielen kleinen Plätzen in Lichterfelde-West, die an den Straßenkreuzungen zu finden sind. Cerstin Richter-Kotowski: “Das ist ein tolles Beispiel für eine erfolgreiche Anwohnerinitiative.”
Die “Nachbarschaftsinitiative Paulinenplatz” hat den völlig verwahrlosten und vermüllten Platz 2020 in eigener Regie gesäubert, neu bepflanzt und dafür gesorgt, dass er inzwischen auch offiziell wieder seinen alten Namen zurückbekommt, der zwischenzeitlich in den amtlichen Dokumenten verloren gegangen war.
Auf dem Paulinenplatz steht auch ein großer Gedenkstein für das “Königlich-Preussische Kadettenkorps 1717 – 1919”. Cerstin Richter-Kotowski: “Dieser Stein wird nicht von jedem geschätzt, weil er Erinnerungen an die zeitweilige Nutzung der Kadettenanstalt weckt. Hier war nämlich die Leibstandarte von Adolf Hitler untergebracht. Die Frage ist doch immer: Wie viel Geschichte wollen wir im öffentlichen Straßenbild haben und auch zulassen? Der Gedenkstein wird regelmäßig beschmiert. Die Anwohner sagen aber: Geschichte kann man nicht ausradieren, man muss sich kritisch mit ihr auseinandersetzen.”
In der alten Kadettenanstalt in der Finckensteinallee ist heute übrigens das Bundesarchiv untergebracht.
Der Spaziergang führte bei bestem Wetter auch zum Kunsthaus der Achim Freyer Stiftung im Kadettenweg 53, zur Clemens-Brentano-Grundschule Steglitz und zum Rotherstift im Baustil der preußischen Backsteingotik.
Der preußische Finanzminister Christian Rother gründete 1840 eine Stiftung, die das dreiteilige Gebäude bis 1898 hat bauen lassen. Es war seinerzeit ein Heim für die unverheirateten Töchter verstorbener Beamten und Offiziere, die sich allein nicht versorgen konnten. Seit 2007 wird es von einem Beamten-Wohnungsverein genutzt. (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „Zehlendorf Aktuell“ Ausgabe 114 (9/2023).
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