Scheibes Glosse: Dr. Google
Alles fing damit an, dass mir eine junge Frau auf einer fröhlichen Party erzählte, sie habe einen Hallux valgus. Die Arme! Sie sah so vital und gesund aus. Und dann das. Ich nahm sie in den Arm, ließ sie meine Anteilnahme spüren, klopfte ihr mitfühlend auf den Rücken und flüsterte in ihr Ohr: „Nicht immer wird am Ende alles gut im Leben, aber die Hoffnung, sie stirbt zuletzt.“ Zuhause beschloss ich dann, diesen sicherlich tödlichen Hallux erst einmal zu googeln.
Oha. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ein Hallux valgus ist ein sogenannter Ballenzeh. Dabei handelt es sich laut Dr. Google um eine erblich bedingte Fehlstellung des großen Zehs, bei Frauen oft verstärkt durch das Tragen entsprechend den Fuß einseitig einengender Schuhe.
Okay, daran wird die Bekannte also doch nicht versterben. Da habe ich anscheinend etwas zu sehr auf die Tränendrüse gedrückt und ihr mehr Angst gemacht als Hoffnung geschenkt. Aber eins weiß ich dafür ganz sicher: Nach dem Sichten der Fotoreihen auf Google werde ich für immer diese Bilder vor meinem inneren Auge sehen, sobald mir eine Frau in viel zu engen Pumps begegnet. Immerhin habe ich dank Google auch gleich noch etwas über den Hammerzeh und den Krallenzeh gelernt. Und bereue es.
Das Starren auf den Bildschirm macht mir aber schon bald Kopfschmerzen, außerdem sehe ich alles verschwommen. Wo ich doch gerade schon einmal dabei bin, frage ich gleich Dr. Google, woher das kommt. Au weia. Ich habe ein Glaukom, was man auch den Grünen Star nennt. Der schädigt den Sehnerv – das spüre ich bereits. Was am Ende zur sicheren Erblindung führt. Ein hoher Augeninnendruck sei Schuld. Ich halte die Augen nun häufiger geschlossen, damit sie nicht explodieren. Aber halt, vielleicht ist es ja auch eine feuchte Makuladegeneration! Was eigentlich egal ist – beide Krankheitsbilder führen dazu, dass ich bald nichts mehr sehen kann.
Solange ich es also noch kann, lese ich weiter. Dr. Google kennt sich aus: Die roten Flecken auf meiner Haut, das sind keine harmlosen Petechien, Rubinflecke, Kirschangiome oder senile Hämangiome. Ich blättere weiter und nähere mich der bitteren Wahrheit. Sicherlich handelt es sich dabei um die Vorboten einer chronischen Psoriasis, wie die Schuppenflechte unter uns Kennern aller Krankheiten auch genannt wird. Eher ist es aber noch der schwarze Hautkrebs. Wenn ich mir die Fotos bereits erkannter Basalzellkarzinome bei Google anschaue, habe ich bereits ein Dutzend davon. Hätte ich mich doch als Teenager nur niemals mit Kokosnuss-Sonnenöl ohne jeden Lichtschutzfaktor in die glühende Sonne Gran Canarias gelegt!
Und ist da nicht bereits ein harter Knoten unter der faltigen Altershaut zu ertasten? Manche Google-Seiten sprechen davon, dass es ein harmloses Fettknötchen sein könnte, also ein Lipom. Sie können an den unmöglichsten Stellen wachsen und mitunter sehr groß werden. Aber wer glaubt schon an eine harmlose Fettgewebsgeschwulst? Wahrscheinlicher ist ein echter Tumor. Dr. Google erzählt mir auch etwas von einem Eigelege tropischer Spinnen unter der Haut, aber hier scheint mir die Quelle nicht besonders seriös zu sein.
Zusätzlich zwickt die Leber, ich spüre ein deutliches Stechen. Und ich habe doch auch immer Probleme mit allem, wenn ich zu viel Wein getrunken habe. Au weia. Dr. Google schüttelt mitleidig den digitalen Kopf und verweist mich fast schon an den Bestatterdienst weiter. Es kann sein, dass ich eine Fettleber habe, dass meine Gallenblase chronisch entzündet ist oder eine Leberzyrrhose vorliegt. Immerhin kann es nicht die Bauchspeicheldrüse sein, denn das seien bei einer Pankreatitis Schmerzen, die man kaum aushalten könnte. Mein Schmerzpegel liegt aber nur bei 0,5 von 10, also wird es eher ein beginnender Leberabzess sein. Dr. Google füttert mich fortlaufend mit weiteren Stichwörtern. Aber zum Glück weise ich in Kombination mit meiner Leber weder eine Lackzunge noch eine Bauchglatze auf. Aber ich habe bestimmt eine Wasseransammlung im Bauch, anders kann ich mir meine Zunahme über die Corona-Monate nicht erklären.
Ich resigniere. Mein Muskelziehen nach dem Sport, das kann nur Rheuma sein. Die Vergesslichkeit insbesondere bei Namen – das ist die beginnende Demenz.
Nach einer halben Stunde Dr. Google bin ich mir sicher: Ich muss bald sterben, es ist so weit. Zum Glück treffe ich rein zufällig meine Hausärztin. Ich konfrontiere sie mit meinen Diagnosen, aber sie winkt nur ab: „Schalt den Computer ab und geh häufiger spazieren. Dann stirbst du auch nicht so schnell. Und mein Rezept für ein langes Leben: Konsultiere bitte niemals jemals wieder Dr. Google.“ (CS)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 92 (11/2021).
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