Scheibes Glosse: Echter Futterneid
Es gibt Menschen, die teilen nicht gern, sondern entwickeln insbesondere beim Anblick von Pizza, Keksen, Kuchen, Pommes, Käse-Häppchen oder hausgemachten Bouletten einen eruptiven Egoismus, der im Volksmund auch Futterneid genannt wird. Männer und Frauen mit einem solchen Futterneid bekommen kalte Schweißausbrüche, einen rasenden Puls und leichte Panikattacken, sobald auch nur der vage Gedanke aufkommt, dass sie ihr Essen teilen müssten.
Bei den Eltern, im Kindergarten, in der Schule und erst recht auf Geburtstagen, Feiern und Veranstaltungen lernt man vor allem eins – zu teilen und anderen den Vortritt zu lassen, wenn es ums Essen geht.
Wer nicht an Akne, Schuppen, schlechten Augen, einem schwindenden Haarwuchs oder eingewachsenen Fußnägeln leidet, hat mitunter das Pech, eine Dysfunktion der Höflichkeit zu erben. Diese Menschen geben sich ganz unverhohlen dem Futterneid hin. Es ist diesem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung einfach nicht möglich, den ehrwürdigen Ansatz zu verstehen, anderen Menschen das allererste Stück des Kuchens zu überlassen oder ihnen den letzten Keks in der Schachtel zu gönnen. Doch wie erkennt man eigentlich einen Futterneider? Wir wissen es: Die Anzeichen liegen doch ganz klar auf der Hand.
Beim Essen in Gesellschaft nehmen Futterneider schnell eine ganz eindeutige stressinduzierte Futterhaltung ein. Der linke Arm wird dabei wie ein menschlicher Schutzwall um den ganzen Teller herum gelegt, um auf diese Weise feindliche Gabeln abzuwehren. Das eigene Esswerkzeug kann dann von rechts in den verbleibenden Sichtspalt eingeführt werden. Die Augen teilen sich dabei in einer physikalisch eigentlich unmöglichen Separation die anstehenden Aufgaben. Eins behält den eigenen Teller im Blick, das andere observiert misstrauisch mögliche Personen, die sich dem eigenen Teller nähern.
Futterneider leben nach einer ganz bestimmten Regel, die sie bereits in frühen Jahren erlernt haben: Wer zuerst fertig ist, darf beim anderen mitessen. Das bedeutet übersetzt: Futterneider schlingen ihr Essen mit der Performance eines Hotdog-Esswettbewerb-Gewinners herunter und stürzen sich dann mit der brachialen Kraft hungriger Wildschweine auf die Teller ihrer Nachbarn.
Futterneider braten übrigens immer fünf Steaks in der Pfanne, obwohl nur vier Personen zum Essen kommen. Weil schon beim Braten klar ist, dass eines der Steaks noch am Herd „probiert“ werden muss – um zu testen, „ob es schmeckt“.
Für Futterneider stellt sich auch die Frage nicht, wer das letzte Stück der Pizza bekommt. Sie nutzen die höfliche Pause, die angesichts des verbleibenden Stücks am Tisch entsteht, weil niemand den Mut hat, einfach zuzugreifen. Bis sich jemand traut, ist das letzte Stück nämlich längst verschwunden. Der Futterneider hat schon lange zugeschlagen. Ohne Hemmung.
Was passiert eigentlich, wenn neben einem Futterneider ein weiterer Futterneider Platz nimmt? Dann muss die eigene Nahrung ganz dringend geschützt werden. Frei nach dem Motto: Guckt der Nachbar viel zu hungrig, sollte man einfach einmal lautstark einen Nieser auf das eigene Essen vortäuschen. Gesundheit!
Es macht nicht den geringsten Spaß, mit einem echten Futterneider auf Pilzsuche in den Wäldern zu gehen. Denn findet eine solche Person als erste ein großes Vorkommen an Steinpilzen oder Pfifferlingen, wird niemand je davon erfahren. „Hier wächst nichts, nicht einmal ein Giftpilz, sucht lieber alle woanders“, heißt es dann. Das gilt natürlich auch für wild wachsende Brombeeren, Blaubeeren oder Preiselbeeren.
Kauft ein echter Futterneider eine große Schale Pommes für die ganze Clique, wird die Anzahl der Kartoffelstäbchen bereits auf dem Weg von der Essensausgabe bis zum Tisch der Freunde deutlich schwinden. Wie heißt es im Geheimbund der Essens-Egoisten wie in einer Bibel der Spachtelkönige: „Ein bisschen Schwund ist immer.“
Futterneider würden gern jedes Buffet mit Tupperware-Vorratsbehältern unter dem Arm stürmen, nehmen sich beim Braten unbekümmert das knusprige Endstück, machen im Supermarkt keinen Bogen um die Teststände mit Probiergarantie, suchen in jeder Bar nach dem Teller mit den Gratisnüsschen und lieben All-you-can-eat-Angebote und kostenlose Getränke-Refills.
Was ist aber, wenn der Futterneider satt ist? Dann wird er plötzlich sehr spendabel, teilt gern und drängt anderen regelrecht sein Essen auf. Nur, um dann jeden gönnerischen Zug gleich wieder zu bereuen, sobald der Magen wieder zu knurren beginnt.
Und jetzt mal ehrlich: Sind wir nicht alle ein bisschen Futterneider? (CS)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 91 (10/2021).
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