Scheibes Glosse: Supermarkt-Man
Superhelden sind überall. Seitdem Marvel und DC ihre bunten Comichelden auch auf die große Kinoleinwand gehoben haben, kennt jeder im Land Superman, Batman oder Spiderman. Sie nutzen ihre besonderen Kräfte, um gegen das Böse zu kämpfen und alle garstigen Verbrecher hinter Gitter zu bringen. Was uns Normalsterblichen im Alltag allerdings fehlt, ist ein Superheld für den Supermarkt. Eben Supermarkt-Man!
Niemand weiß, wer ich bin. Ich habe eine Tarnidentität. Ich wirke wie ein ganz normaler Bürger. Eben hat man mich noch gesehen, schon hat man mich vergessen. Seitdem ich mir den Finger im zuschnappenden Schiebedeckel einer Supermarkt-Tiefkühltruhe eingeklemmt habe, besitze ich wahre Superkräfte. Seitdem bin ich Supermarkt-Man. Nichts entgeht meinem Blick. Ich ziehe ständig eine Augenbraue kritisch prüfend nach oben.
Meine Superkräfte? Ich kann zusammengeschobene Einkaufswagen auch ohne Münze voneinander trennen. Ich finde mit nur einem Griff immer das Produkt mit der längsten Mindesthaltbarkeit. Und ich greife stets nach der Plastikschale mit Weintrauben, in der die unterste Weintraube nicht schon längst verschimmelt ist.
Heute bin ich wieder im Einsatz gegen das Böse im Supermarkt. Bereits beim Betreten des Geländes geht es los. In letzter Sekunde huscht noch jemand in die Drehschleuse am Eingang und haut mir seinen Wagen in die Hacken. Alles verkeilt sich, die Anlage stoppt, nichts geht mehr. Sekunden später hat Supermarkt-Man alles im Griff. Die Anlage kommt wieder in Bewegung, ich trete mit meinem Wagen in den Markt. Den Finsterling habe ich mit Superhelden-Klebeband so an die Wand der Schleuse geklebt, dass er ein paar Extrarunden dreht.
Vor dem Milchregal entdecke ich den nächsten Fall rücksichtslosen Verhaltens. Ein Mann hat seinen Wagen so neben sich geschoben, dass er den Zugriff auf das gesamte Regal blockiert. Dazu liest er minutenlang den Text auf einem Milch-Tetrapack. Er kräuselt die Stirn. Nur für ihn hat sich die Milchindustrie gesagt: Komm, wir schreiben die Texte auf der Verpackung ganz langsam, unsere Kunden können ja nicht so schnell lesen! Eine Omi wartet höflich, aber der Mann gibt den Zugriff auf das Regal einfach nicht frei. Supermarkt-Man sorgt für ein Ablenkungsmanöver und vertauscht die Preisschilder von Quark und Schlagsahne. Dann nimmt er sich eine Zehnerpackung Eier von freilaufenden Biohühnern – und zieht dem Milch-Störenfried eine über. Schnell landet der bewusstlose Schädling in seinem Einkaufswagen – und wird vor den veganen Joghurts geparkt. Da findet ihn niemals jemand wieder.
Plötzlich bemerke ich Kindergeschrei und sehe, wie ein hyperaktives Gör Slalom zwischen den Ständen in der Obstabteilung läuft und dabei schreit wie ein Irrer. Eine Gurke fällt herunter, dann eine Aubergine. Die dazugehörende Mutter schnattert mit einer Freundin. Ich erwische das Balg, nehme es am Schlawittchen und stelle es in einer fließenden Bewegung ruhig. Es liegt nun lang ausgestreckt mitten in der Tiefkühltruhe auf einem weichen Berg Pizzakartons. Die Kälte sollte beruhigend wirken.
Da muss Supermarkt-Man aber auch schon wieder weiter. Ein unfreundlicher Einkäufer herrscht eine hilflose Supermarkt-Aushilfe an. Er möchte wissen, wo die Erdnussbutter versteckt sei. Er könnte sie weder bei der Butter noch bei den Nüssen finden. Die Aushilfe wirft mir einen verzweifelten Blick zu. Ich übernehme. Ich verspreche, ihn zur Erdnussbutter zu führen. In der Abgeschiedenheit zwischen Marmeladen und Cerealien führt Supermarkt-Man ihm sein respektloses Verhalten gegenüber der Aushilfe vor Augen. Gemeinsam zählen wir dann, wie viele Erdnüsse in seine Nase passen. Es sind vierzehn.
Zwei Freundinnen treffen sich im Hauptgang. Sie stellen sich mit ihren Wagen so hin, dass garantiert niemand an ihren vorbeikommt. Ein Stau entsteht. Supermarkt-Man opfert einen Schnürsenkel und verknotet die beiden Einkaufswagen miteinander. Dann ruft er: „Nur jetzt. Asti Spumante zum halben Preis. In der Schnaps-Abteilung“. Die beiden Frauen schauen sich an – und rennen los. Dabei reißen die zusammengeschnürten Wagen eine mit großem Einsatz aufgetürmte Pyramide aus Orangen um. Die Südfrüchte kullern überall hin. Schicksalsergeben gehen die Damen in die Knie.
Ich stehe derweil ganz entspannt an der Kasse und bezahle meine Einkäufe. „Haben Sie einen schönen Tag“, wünscht die Kassiererin. Den habe ich. Supermarkt-Man hat im Kampf gegen die Vigilanten des Markts wieder auf ganzer Linie gewonnen und für Respekt und Ordnung gesorgt. Und morgen beginnt alles wieder von vorn. (CS)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 93 (12/2021).
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