Scheibes Glosse: Müde Ausreden

Es sind die kleinen Ausreden, mit denen man es schafft, die gesellschaftlichen Klippen des Alltags in ruhigen Gewässern zu umschiffen. Wer ein bisschen flunkert und dabei auch noch nett ist, erleidet eben keinen sozialen Schiffbruch. Wer stattdessen lieber die unverblümte Wahrheit sagt, muss damit rechnen, gemeinsam mit seinem sinkenden Schiff unterzugehen.
“White lies” sind kleine Notlügen, die man im Alltag beschwichtigend in ein Gespräch einflechten kann, um in den sozialen Wogen keinen allzu gefährlichen Wellenschlag zu verursachen.
Es gibt aber durchaus eine Bewegung in der Gesellschaft, die sich auch diese kleinen Alltagsschwindeleien gern auf Dauer versagen möchte, um so authentisch wie nur möglich durchs Leben zu gehen.
Wie könnte man sich diese grenzenlose Ehrlichkeit wohl vorstellen?
Wer morgens zehn Minuten zu spät zur Arbeit kommt, sagt gern: “Es gab auf der Stadtautobahn einen Stau, Klimakleber, wohin das Auge nur blickt. Einen Unfall gab es auch, ich war Ersthelfer.”
Die Wahrheit wäre aber: “Ich bin morgens nicht aus dem Bett gekommen und habe noch vor dem Aufstehen bereits endlos Katzenvideos auf dem Handy geguckt. Dann habe ich vor der Tür die Nachbarin getroffen und wir haben beim Quatschen die Zeit vergessen. Da half es auch nicht mehr, dass ich mit quietschenden Reifen und völlig überhöhtem Tempo über die leeren Straßen zur Arbeit gebrettert bin.”
Wenn abends die beste aller Ehefrauen misstrauisch fragt, ob man auf dem Pokerabend mit den Jungs etwas getrunken hat, hieß es bisher: “Ich habe nur bei Peter einmal an seinem Bierglas genippt, weil das Wasser gerade alle war.”
Richtig wäre aber schonungslose Offenheit gewesen: “Kalle hatte noch einen Kasten Bier, der war fast abgelaufen, und der musste ganz dringend ausgetrunken werden. Und wo wir schon einmal dabei waren, haben wir alle offenen Rum- und Whiskyflaschen im Pokerkeller geleert, die werden ja auch nicht besser. Die letzten vier Zentimeter in der Flasche mit dem Popcorn-Rum habe ich sogar auf Ex getrunken. Kalles Frau hat uns alle nach Hause gefahren, weil wir voll waren wie die Strandhaubitzen.”
Auch die Kumpels müssen manchmal angelogen werden. Wenn sich einer von ihnen beschwert, weil er nicht zur Kino-Sause eingeladen war, sagt man normalerweise: “Wir haben dir doch eine WhatsApp geschickt, hast du die gar nicht gelesen? Da muss wohl technisch etwas schiefgegangen sein.”
Ehlicher wäre es aber zu sagen: “Du zappelst im Kino immer mit den Beinen, stinkst nach Döner und laberst uns davor und danach stundenlang mit deinem Lieblingsthema Nummer eins, der Reichweite verschiedener E-Auto-Modelle, voll. Das interessiert aber niemanden. Dann gehen wir lieber ohne dich ins Kino.”
Warum sich die Familie keinen Hund anschafft? Da sagt der Mann schon einmal: “Diese Verantwortung wäre einfach viel zu hoch für uns als Familie. Und das wäre dem Tier gegenüber nicht fair.”
Eindeutig wahrer wäre aber diese Aussage: “Nach der Arbeit will ich aufs Sofa und ein Schläfchen machen. Weder möchte ich ständig in Hundehaaren liegen noch diesen ewig-müffelnden Geruch nach nassem Hund ertragen. Ich habe absolut keine Lust, bei Regen und Graupel auf langweilige Gassirunden zu gehen, und erst recht nicht darauf, die stinkenden Hinterlassenschaften des Köters mit den Händen einzusammeln, um sie im Beutel den ganzen Weg bis nach Hause mitzuschleppen.”
Gefährlich ist im Pärchenbereich natürlich auch die Frage, warum man denn die Eltern der Ehefrau nicht einmal wieder zum gemütlichen Essen einlädt. Da sagt man vielleicht: “Ach, ich hab gerade so viel in der Firma zu tun, abends bin ich einfach tot und freue mich auf eine ruhige Stunde vor dem Fernseher.”
Richtiger wäre aber: “Dein Vater pafft immer seine Pfeife, obwohl er doch genau weiß, dass wir Zuhause nicht rauchen. Dann stinkt das Haus immer wochenlang, das ist voll ekelig. Und deine Mutter findet alles doof, was ich mache, kritisiert die Kinder und nörgelt, dass man bei uns dringend einmal wieder putzen müsste.”
Zu einem richtigen ehelichen Verwürfnis kann es ganz schnell kommen, wenn sie ihn fragt, wie er denn die neue Nachbarin findet. Normalerweise würde er sagen: “Neue Nachbarin? Ist nebenan denn schon jemand eingezogen?”
Ehrlicher wäre aber: “Oh, das ist aber eine scharfe Schnitte. Mit ihrem Hintern kann sie Walnüsse knacken, mit ihrer Figur Herzrhythmusstörungen auslösen. Wenn sie mich anlächelt, werde ich willenlos. Würde sie an unserer Haustür klingeln, dürfte sie mich im Keller an die Heizungsanlage ketten und mir mit meiner Krawatte den Hintern versohlen.”
Nur wenn ihm anschließend bei einer plötzlichen Scheidung die Worte fehlen, ist jede weitere Notlüge überflüssig. (CS)
Dieser Artikel stammt aus „Zehlendorf Aktuell“ Ausgabe 118 (1/2024).
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