Scheibes Glosse: Blut abnehmen
Ich bin ein harter Kerl. Ich springe von Hochhäusern, ringe mit Wölfen, widerspreche meiner Frau und habe beim Sport eine große Klappe. Nur eins, das kann ich so gar nicht haben, da werde ich zum wimmernden Kleinkind, das am liebsten auf der anderen Seite des Erdballs sein möchte. Es geht um eine der teuflischten Erfindungen der Menschheit – das Blut abnehmen. Hier falle ich regelmäßig um.
Ach, nun stellen Sie sich doch nicht so an! So herrschte mich damals eine Amtsärztin bei der BfA an, als ich dort für eine (schon bald darauf aufgegebene) Beamtentätigkeit eine Gesundheitsprüfung absolvieren musste. Gefühlt hundert junge Anwärter standen in den Gängen und warteten darauf, zur Ader gelassen zu werden. Es war wie am Fließband.
Ich nörgelte und greinte, schielte zur bequemen Liege und bettelte, ob nicht jemand anders vor mir erst Augen- und dann Körperkontakt zur Nadel aufnehmen könne. Immerhin heiße ich doch Scheibe – und im Alphabet müssten doch noch ausreichend Meiers, Galandis und Eberhofers vor mir dran sein. Nur bitte keine Schmidts oder Schröders vor mir in der Schlange, die wären ja dann erst hinter mir an der Reihe.
Aber es gab schon damals kein Entkommen. Schnell saß ich auf einem wackeligen Plastikstuhl und mein Arm wurde abgebunden, als wolle man ihn gleich aus einer blutig zugeschnappten Bärenfalle schneiden. Das Schlimmste für mich ist nicht das Pieksen der Nadel, sondern dieses suchende Klopfen mit dem Finger. Dann das Stirnrunzeln der Ärztin, wenn sie keine Vene findet. Diese Ratlosigkeit im Blick. Dann das Schulterzucken: Ach, ich probier’s mal. Und schon merke ich: Der Kreislauf sackt seitlich weg und mir wird schummrig.
Und die eiskalte Amtsärztin rief auch prompt: “Schnell, hilf mir mal jemand. Der klappt mir weg.” Schon werde ich auf die Liege geschoben, bekomme ein Glas Wasser gereicht und jemand tätschelt mir abwechselnd Wange und Händchen. Eine Frauenstimme säuselt in mein Ohr, wie tapfer ich doch bin. Na bitte, es geht doch.
In der Unizeit musste ich während des Biologiestudiums wieder zum Blutabnehmen, um radioaktiv arbeiten zu dürfen. Das Spiel wiederholte sich einmal mehr. Dieses Mal gab es aber noch weniger Mitleid für mich. In meinen beiden Armen wurden die Nadeln schneller versenkt als eine Nähmaschine eine neue Naht setzen kann. Trotz der Gewalteinwirkung – das Blut spritzte nicht. Ich kippte wieder um. Kam auf die Liege. Wasser wurde gereicht. Frauenstimmen am Ohr – man kennt das ja schon. Am Ende kam eine Professionelle, die älteste Schwester mit der meisten Erfahrung. Sie fand die Vene – alles gut. Zwei Tage später der Anruf im Labor: Man hätte leider die Blutproben nicht richtig behandelt, das Blut sei geronnen, ich müsste noch einmal kommen. Das sei ja nicht so schlimm, oder? Ich brüllte. Was niemandem zu imponieren schien. Ich fügte mich – und ließ mir erstmalig das Blut aus der Hand abnehmen.
Nun, nach viel zu langen Jahren ohne Blutentnahme war es jüngst für einen allgemeinen Checkup einmal wieder an der Zeit, den Kontakt zum Allgemeinarzt zu suchen. Blutfette, Leberwerte, Prostata, Vitamine, Entzündungswerte: Das muss ja alles einmal wieder untersucht werden, bevor es zu spät ist und sich das Blut plötzlich blau färbt wie bei einem Tintenfisch.
Nach all den Jahren war ich fest entschlossen, endlich erwachsen zu sein. So ein bisschen Blut abnehmen, das kann doch gar nicht so schlimm sein. Ich nahm mir fest vor, nichts vom Umkippen zu sagen und tapfer zu sein. Schon saß ich auf dem Stuhl, wurde wieder abgebunden wie ein angeschossener Trapper im Wilden Westen, dem man eine Kugel herausoperieren möchte, und sollte mit der Hand eine Faust machen. Und schon wurde mir wieder flau im Magen. Dann kam der Finger – und tippte wieder auf meiner Armbeuge herum, als galt es, einen geheimen Morsecode abzusetzen. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Ich lächelte gequält. Andere mochten gedacht haben, ich fletsche die Zähne.
Dann kam die Nadel. Ich schloss die Augen und dachte an meinen Trick: Einfach stumm bis zehn zählen. Dann ist bestimmt alles vorbei und ich kann nach Hause gehen. Mit einem Tapferkeitspflaster in der Armbeuge. Ich zählte sicherheitshalber bis 20, weil ich nichts hörte. “Und – geschafft?” – murmelte ich. “Ich habe leider nicht getroffen”, sagte die Schwester hochbetrübt: “Kann ich einmal den anderen Arm sehen?”
Um es kurz zu machen: Auch der andere Arm schien bluttechnisch so vertrocknet zu sein wie ein Brunnen in der Sahara. Nach einer halben Stunde hatte ich mehr Löcher in den Armen als ein Piercing-Süchtiger im Intimbereich. Oder ein Angler am Mücken-verseuchten Gewässer.
Wieder musste die ältere und schon erfahrene Schwester kommen. Die schaute sich das Dilemma kurz an, sagte “So etwas hab ich ja noch nie gesehen” und griff nach meiner Hand: “Wir nehmen das Blut besser hier aus der Hand ab.” Warum nicht gleich? (Carsten Scheibe)
Dieser Artikel stammt aus „Zehlendorf Aktuell“ Ausgabe 115 (10/2023).
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