Scheibes Glosse: Frau Merkel ruft uns an!
Ich bin Lokalreporter. Ich stelle den lokalen Chor vor, besuche den Kleintierzuchtverein, bin bei der Kitaeinweihung mit dabei und fotografiere die Kindermannschaft vom lokalen Sportverein, wenn es neue Sponsoren-T-Shirts gibt. Und natürlich bin ich auch mit vor Ort, wenn der Bürgermeister Preise für ein ehrenamtliches Engagement der Bürger überreicht.
Mein Leben ist spannend, ich lerne jeden Tag dazu, und am Ende des Monats zimmere ich aus meinen Texten und Fotos ein neues Lokalmagazin zusammen.
Geht es aber nach Freunden, Bekannten, Passanten, Verschwörungstheoretikern und Schwurblern, so gibt mir der Staat vor, was ich zu schreiben habe. Aus der Ferne betrachtet, scheint sich mein Alltag den Außenstehenden nämlich so darzustellen:
Wir befinden uns in der Redaktion. Polierte Wallnussdielen, edle Designermöbel, die neuesten Mac-Computer. Das Telefon klingelt. Sonja: „Carsten, Frau Merkel ist wieder dran. Ich stelle durch.“
Ich: „Ach Frau Merkel, das ist ja nett, dass Sie durchklingeln. Rufen Sie wieder bei allen Zeitungen im Land an? Was kann ich denn heute für Sie tun, was sind denn dieses Mal die Pflichtartikel, die alle Zeitungen bringen sollen? Aha, hmm, hmm, warten Sie, ich schreibe mit. Klimakatastrophe ist nicht so schlimm, der Diesel ist nicht zu retten, aber das Benzinauto geht doch eigentlich noch. Eine neue Flüchtlingswelle kommt, aber wir brauchen ja auch dringend neue Facharbeiter. Das Lehrerstudium wird in Zukunft nicht mehr angeboten, weil wir sowieso nur noch Quereinsteiger einstellen. Klar, die Schüler sind ja alle ständig am Demonstrieren und gehen eh nicht mehr in der Schule. Alles klar, machen wir. Schönen Tag noch und einen Gruß an alle im Kabinett.“
Anni: „Carsten, da ruft gleich der nächste durch. Der von der Industrie-Lobby.“ Ich: „Wer?“ Anni: „Na, das ist dieser neue Dings, der Zusammenschluss der Industrie. Die Großkonzerne dürfen uns von der Presse ja inzwischen auch vorgeben, worüber wir schreiben sollen.“
Ich hebe ab: „Hallo, Herr … ach, wie jetzt, Ihr Name tut nichts zur Sache? Ok, ok. Wir brauchen mehr Windräder, sagen Sie? Und ich soll schreiben, die neuen Studien, die besagen, dass die Windräder die Erdrotation beschleunigen, die seien alle aus der Luft gegriffen? Haha, schönes Wortspiel. Ja, mache ich. Ich habe nur ein Problem damit, wie letztens gewünscht einen Artikel darüber zu verfassen, dass Kreuzfahrtschiffe doch eine prima Alternative zu den CO2-intensiven Flugreisen sind. Das schluckt der Leser doch niemals. Sie meinen doch? Naja, es ist ja Ihre Zeitung. Wobei – es ist meine. Aber ich habe ja nichts zu sagen und muss schreiben, was mir die Konzerne vorschreiben. Haha, schon wieder ein lustiges Wortspiel. Auf Wiederhören.“
Ich bekomme mit, wie Sonja mit einem Kunden spricht. Der will am Telefon eine Anzeige bei uns buchen. Ich schnappe mir das Gespräch per Tastendruck und sage: „Ach kommen Sie, wir schenken Ihnen die Anzeige. Wir alle arbeiten hier eh nur auf ehrenamtlicher Basis. Deswegen sind wir auch am Wochenende und an den Feiertagen immer im Büro. Das geht nur, wenn man es nicht bezahlt bekommt.“
Wir können es uns ja leisten – dank der Staatsfinanzierung. Aber das muss der Anrufer ja nicht wissen. Anni schiebt derweil eine schwere Schubkarre mit neu angelieferten Geldbündeln ins Büro. Die Kohle wurde uns gerade von der Großindustrie zugestellt. Als Dank für unseren Artikel, dass Atomkraftwerke völlig sicher sind und bald ein Revival erleben werden.
Sonni sagt: „Ich hab Hunger. Ich könnt jetzt echt was essen.“ Schnell sucht Anni nach Presseveranstaltungen in der Nähe, die an eine Verpflegung gekoppelt sind. Hmm, was ist besser? Seniorenfest mit Eisbein satt? Oder gehen wir doch lieber zur Pressekonferenz der Feuerwehr mit Kesselgulasch und Erbsensuppe? Wir entscheiden uns für den Sushi-Workshop beim Vietnamesen.
Können wir uns den Essenstrip zeitlich leisten? Ein Artikel fehlt noch fürs Heft. Anni: „Ein Leser hat uns einen selbstgeschriebenen Fachartikel über die Entstörung von Barcodes geschickt. Wollen wir den nehmen?“ Super, damit ist das auch erledigt. (CS, Foto: Tanja M. Marotzke)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 67 (10/2019).
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