Scheibes Glosse: Herr der Ringe
Was macht man, wenn der Tag so richtig stressig war, nichts so recht funktioniert hat, die Liebste am Abend mit einem nörgelt und es vor dem Schlafengehen dringend noch eines Höhepunktes bedarf? Klarer Fall: Dann braucht es eine ganz besondere Ablenkung. Echte Kerle starten dann zum wiederholten Mal den „Herrn der Ringe“ – in der 12 Stunden langen Extended Version.
Wenn die Jungs im „Herrn der Ringe“ einen schlechten Tag haben, dann gibt es für sie immer eine ganz probate Lösung. Sie greifen zu Schwert und Bogen – und vermöbeln ein paar stinkende Orks. Wenn das Leben nur so einfach wäre!
Die drei „Herr der Ringe“ Filme bieten zahlreiche Möglichkeiten, um sich mit den Helden zu identifizieren – als Stellvertreter zur angenehmen Realitätsflucht. Man kann der coole Aragorn sein – mit Muckis, Bart und Charisma. Oder man schlüpft in die Rolle des androgynen und geheimnisvollen Elben Legolas. Wer im wahren Leben eher klein und dicklich ist, findet sich im Zwerg Gimli wieder. Und wer hässlich ist wie eine Bratpfanne und zu einem chronischen Herpes neigt, kann sogar die Seite wechseln und sich mit einem Ork gemein machen.
Diese gewaltige Wirkung auf das männliche Geschlecht hat „Herr der Ringe“ schon von Anfang an. Ich kann mich an die Premiere vom letzten und dritten Teil „Die Rückkehr des Königs“ erinnern. Im Kino gab es eine Sondervorführung mit allen drei Teilen am Stück. Unsere Männer-Gang vereinnahmte eine ganze Reihe – und zog sich die Filme rein. Auch in der normalen Fassung ist das Fantasy-Epos bereits knapp neun Stunden lang. Plötzlich müffelte es hinter uns ordentlich. Als wir uns umdrehten, schauten wir in die Fratzen von einem Dutzend verkleideter Orks. Der Gestank kam aber weniger von den aufgesetzten Gummimasken, sondern rührte vielmehr von den Ausdünstungen der vor dem Kinobesuch noch rasch genossenen Döner her.
Der Aufstieg des Bösen in Gestalt von Sauron und Saruman sorgt vor allem dank der explizit gezeigten Schlachten für sprudelndes Adrenalin unter den Zuschauern. Und während im wahren Leben schon ein einziges Widerwort gegen den Chef eine Auflehnung bar jeder Realität ist, stürmten wir völlig aufgestachelt aus dem Kino, zogen imaginäre Schwerter und forderten lautstark „Freiheit für Gondor“. Wenn wir doch nur so mutig für unser Recht kämpfen würden, getragene Socken im ganzen Schlafzimmer zu verteilen!
So eine lange Fernsehnacht mit dem „Herrn der Ringe“ erinnert an einen klassischen Männerabend. Denn Frauen gehören bei den Helden aus Mittelerde irgendwie nicht zum innersten Kreis des Vertrauens dazu. Und so können die Kumpels aus Tolkiens Fantasie ganz ohne Mecker Sprüche klopfen, Pfeifchen rauchen, Bier schlürfen und ordentliche Kloppereien lostreten.
Natürlich wünscht man es sich, etwa angesichts eines anstehenden Fußballspiels die eigenen Kumpels auf so heroische Art wie im Film einzustimmen: „Dies möge die Stunde sein, da wir gemeinsam Schwerter ziehen. Grimme Taten erwachet. Auf zu Zorn, auf zu Verderben und blutig Morgen!“
Und wie perfekt wäre es, angesichts einer neu vom Boss zugeteilten und ziemlich blöden Arbeit mit Théodens Worten zu jammern: „Ach, dass diese finsteren Tage meine sein müssen.“
Ebenso wäre es ein echter Gewinn, wenn man seine Verwandten einmal so herrlich verklausuliert beschimpfen könnte, wie es der Hobbit Bilbo Beutlin in „Die Gefährten“ getan hat: “Ich kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.” Au Backe.
Natürlich wirkt diese „Herr der Ringe“ Magie nicht bei jedem Menschen mit XY-Chromosom und ordentlich Testosteron im Blut. Was macht man mit Freunden wie Dirk, der vor seinem gewaltigen XXL-Fernseher steht, auf dem jeder kleine Rostfleck auf den Schwertern zu sehen wäre, und der lakonisch zugibt: „Die Schlachten spule ich immer vor, das ist doch langweilig.“
Spulen darf man immer nur die Sequenzen mit Frodo und Sam, die den Ring zum Schicksalsberg bringen. Die beiden heulen den ganzen Film und man könnte diese Szenen einfach nur mit „MiMiMi“ untertiteln. Na klar retten sie am Ende allen das Leben, aber was sind das für Lutscher!
Die meisten Frauen können mit dem „Herrn der Ringe“ so rein gar nichts anfangen. Nicht einmal die ätherisch zarte Liebesgeschichte zwischen dem Waldläufer Aragorn und der wunderschönen Elbin Arwen lässt sie aufblicken: Da sei ja in jedem Rosamunde Pilcher Film mehr Herzschmerz enthalten. Und überhaupt diese ganzen Kämpfe. Warum reden die nicht einfach nett miteinander und klären ihre Probleme auf friedliche Weise? Dafür denke ich aber auch bei Rosamunde Pilcher: Warum zieht da niemand sein Schwert und haut mal auf den Tisch? Verdient hätten es diese blasierten Adelsonkels oft genug.
Zum Glück wurde die cineastische Heroen-Testosteron-Durststrecke nach „Herr der Ringe“ bald mit der TV-Serie „Game of Thrones“ beendet. Aber jetzt ist schon wieder Ebbe im heroischen Fernsehland. Bevor die Wirkung nachlässt, schau ich also schnell noch mal den „Herrn der Ringe“ in der langen 12-Stunden-Fassung. Übrigens schon zum 30. Mal. Für Gondor. Für Rohan. Für das Auenland. Und natürlich auch für Steglitz-Zehlendorf. (CS)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 90 (9/2021).
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