Scheibes Glosse – Warum denn einen Arzt aufsuchen, wenn man Dr. Google hat?

Wir leben im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Das ganze Wissen der Menschheit ist im Internet nur noch einen Mausklick weit entfernt. Warum soll man da noch zum Arzt gehen, wenn man auch das Internet konsultieren kann, sobald etwas juckt, zwickt, brennt, blutet, ausfällt oder die Farbe ändert? Wir machen die Probe aufs Exempel. Letztens habe ich mir beim Essen auf die Wange gebissen. Das hat ordentlich geknirscht, jetzt erwische ich die Stelle immer wieder neu beim Zubeißen, weil sie angeschwollen ist. Muss ich da etwas wissen, Doktor Google?
Google findet etwas Ähnliches: “Aphthen sind entzündete Stellen an der Mundschleimhaut, klein und schmerzvoll. Oft ist die Ursache harmlos. Es kann aber auch eine ernste Krankheit dahinterstecken.”
Ach du jeh, was denn nur? Das Internet meldet mir Morbus Behçet, eine seltene, entzündliche Gefäßerkrankung. Es kann sich aber auch eine chronische Darmerkrankung wie Morbus Crohn oder Zöliakie im Mund zeigen. Auch im Rheumabereich kann das Aua im Mund verortet sein, ich lerne dabei den neuen Fachbegriff “reaktive Arthritis” kennen.
Wenn wir schon einmal dabei sind, frage ich mich, ob die weißen Flecken auf meinen Fingernägeln wirklich harmlos sind. Dieses Mal nutze ich eine andere Suchmaschine und gebe Doktor Bing von Microsoft eine Chance. Zunächst einmal beginnt alles ganz harmlos: “Weiße Flecken auf den Fingernägeln werden oft durch Lufteinschlüsse verursacht, die sich bei Verletzungen der Nagelwurzel bilden.”
Na, dann ist ja alles gut. Aber dann lese ich von “intensiv weißen Nägeln” mit Verfärbungen am Außenrand, den sogenannten Terry-Nägeln. Sie können auf eine chronische Leber- oder Niereninsuffizienz hinweisen. Oh weh, ich spür es schon zwicken in der Leber. Dabei habe ich noch gar nicht gelesen, was es denn mit Trommelschlegelfinger oder Uhrglasnägeln auf sich hat.
Je älter man wird, umso mehr Dinge passieren auf der eigenen Haut, die man sich weder unter der Lupe noch unter dem Mikroskop anschauen möchte. Eins davon sind Stielwarzen, auch Fibrome genannt. Die Künstliche Intelligenz, die ich jetzt als Nachschlagewerk bemühe, beruhigt mich und sagt, dass diese Hautwucherungen völlig harmlos sind und man sie beim Arzt ganz leicht entfernen lassen kann. Also alles ganz easy und entspannt. Es sei denn. Ja, es sei denn, es handelt sich dabei um Feigwarzen. Das sind blumenkohl-warzige Wucherungen vor allem im Genitalbereich, die beim Sex durch ein Virus hervorgerufen werden. Feigwarzen sind sehr, sehr ansteckend. Am besten entfernt man sie durch Vereisen mit flüssigem Stickstoff. Ich schlucke. Lese aber zur Beruhigung: “Lass dir von Feigwarzen nicht dein Date ruinieren!” Beruhigend, Dr. ChatGPT.
Weiter geht es mit dem Haarausfall. Tatsächlich werden die Haare auf dem Kopf immer lichter. Liegt das am Alter? Oder steckt mehr dahinter? Ich bin wieder bei Dr. Google angekommen. Und lerne: “Haarausfall wird auch als Alopezie bezeichnet. Er kann vorübergehend stattfinden oder sich dauerhaft zeigen. Haarausfall kann erblich bedingt sein. Er wird aber auch durch Stress oder Medikamente ausgelöst.”
Ich lerne, dass diffuser Haarausfall ein typisches Symptom bei Nierenerkrankungen ist. Auch eine gestörte Darmgesundheit triggert mitunter Entzündungen, die sogar die fernen Haarfollikel durcheinanderbringen können.
Im Internet gibt es ja viele Top-10-Listen. Beim Verlust der eigenen Haare braucht das Web aber nicht einmal alle Finger beider Hände: Es gibt nur eine “Top 8 der häufigsten Haarausfall Krankheiten”. Na, die Top-8 reichen ja auch schon aus.
Außerdem erfahre ich, dass meine mit dem Alter zunehmende Unfähigkeit, mit Alkohol zurechtzukommen, wahrscheinlich eine sich mit der Zeit manifestierende Alkoholunverträglichkeit sein könnte. Oder es liegt eine Histamin-Intoleranz vor, das kann auch sein. Dr. Google rät, einfach auf “ethanolhaltige Getränke zu verzichten”.
Aber wie soll ich das denn tun, wenn ich auf der Schulter eine murmelgroße Beule unter der Haut ertaste. Das ist doch bestimmt schon der Anfang vom Ende, ein garantiert tödlicher Tumor?
Zum ersten Mal beruhigt mich das Netz: “Eine Beule unter der Haut, das könnte ein Lipom sein, ein Atherom oder ein Ganglion. Lipome und Atherome sind gutartige Geschwulste, Ganglien treten bei Rheuma oder Gelenkverletzungen auf. Granulome sind als Rheumaknoten bekannt.”
Ich habe bestimmt einen Rheumaknoten. Die nun im wahren Leben hinzugezogene Hautärztin sagt: “So ein Quatsch. Das ist ein stark entzündeter Abszess, der muss gespalten werden. Und zwar ohne Narkose, weil Sie viel zu spät zu mir gekommen sind und eine Spritze nun nicht mehr wirkt. Ich habe für Sie nur ein bisschen Eisspray zur Betäubung.” – Ich sage noch: “Siri, google bitte ‘Schäden durch Eisspray'”, da sehe ich auch schon das Skalpell aufblitzen. Zu spät. Nächstes Mal gehe ich wohl besser gleich zum Arzt. (Carsten Scheibe)
Dieser Artikel stammt aus „Zehlendorf Aktuell“ Ausgabe 133 (4/2025).
Seitenabrufe seit 28.04.2025:
Anzeige

Sie haben eine Artikelidee oder würden gern eine Anzeige buchen? Melden Sie sich unter 03322-5008-0 oder schreiben eine Mail an info@zehlendorfaktuell.de.