Scheibes Glosse: Nett zugenickt
Ich bin in dem Alter, in dem langsam alles weh tut, schmerzt, zieht, zwickt und drückt. Komische Beulen und Flecken tauchen auf, dafür schwinden die Haare. In meinen Tagträumen gehe ich aber nicht länger zum Arzt, sondern probiere etwas ganz Neues aus – ein magisches Nicken. Das verhilft mir sofort zu einem besseren Körpergefühl – auch wenn es in der Auswirkung auf andere natürlich extrem asozial und verwerflich ist. Aber wenn es funktionieren würde: Was würden SIE tun?
Auf all meinen Wegen schaue ich mir die Menschen ganz genau an, die mir entgegenkommen. Es sind junge und alte Menschen in der Menge zu sehen, dicke und dünne, schöne und hässliche. Wenn ich sie aber im Vorbeigehen genauer ins Visier nehme, dann achte ich immer auf ganz bestimmte Details. Denn ich muss in wenigen Sekunden erahnen, ob sie denn wohl als “Spender” geeignet wären.
Da kommt mir auch schon ein Mann entgegen, der bestimmt in seinen Fünfzigern ist, aber noch immer volles Haar besitzt. Meine Haare sind schon lange so extrem dezimiert, dass es deutlich einfacher wäre, sich eine Glatze zu rasieren, als weiterhin teures Geld zum nächsten Barbier zu tragen. Ich nicke dem Fremden zu. Und merke sofort, wie der magische Austausch funktioniert. Ich spüre, wie meine Haare zu wachsen beginnen – und sehe, wie seine schwinden. Im Vorbeigehen fasst sich der Mann erstaunt an den Kopf.
Weiter geht es. Ein paar Tage später entdecke ich einen ganz dürren Hering, der joggend um die Ecke biegt. Der Schweiß fliegt, das Wollen steht ihm im Blick, der Kerl hat Ehrgeiz. Und ich habe leider ein paar Kilos zu viel auf den Rippen. Im Vorbeilaufen nicke ich dem Läufer zu. Seine Augen weiten sich kurz, als ihn plötzlich das Gefühl überkommt, dass sein hauteng sitzendes Sportler-Shirt zu eng wird. Wie Recht er doch hat. Ich streiche derweil über mein neues Sixpack. Der Tag beginnt doch schon mal nicht schlecht. Darauf einen Döner. Ich weiß ja nun, wie ich die neu entstehenden Pfunde schnell und bequem und vor allem ohne Sport wieder loswerden kann.
Mein Knie schmerzt schon seit Tagen. Was kann das wohl sein? Eine Arthrose? Eine Überdehnung? Das Alter? Ist doch völlig egal. Ich schaue mir nun die Passanten vor Ort dahingehend an, wie leicht, locker und federnd sie laufen. Da kommt gerade ein junger Kerl, der bestimmt noch völlig unbelastete Gelenke hat, voller Knorpel, Schmiere und Minisken. Freundlich nicke ich ihm zu. Im Vorbeigehen merke ich, wie er plötzlich zu torkeln beginnt, als würden ihm seine Beine auf einmal nicht mehr gehorchen. Er muss sich auf eine Parkbank setzen. Ich laufe derweil beschwingt weiter.
Gut gucken kann ich auch nur noch sehr schlecht. Jedes Jahr wird deswegen eine neue Brille fällig. Das muss doch auch nicht sein. In meinem ganz persönlichen Körpererneuerungsprogramm wären zwei neue Linsen nicht das Schlechteste. Ich achte nun gezielt darauf, wer keine Brille trägt und den Eindruck macht, als würde das Leben in Ultra-HD-Qualität an ihm vorbeiziehen. Da, ein junger Kerl. Er sieht aus, als ob er Adleraugen hätte. Ich nicke ihm zu – und wäre selbst fast gegen den nächsten Betonpfeiler gelaufen. Ich habe gar nicht gewusst, dass die reale Welt so viele Pixel hat: So scharf habe ich meine Umgebung ja noch nie gesehen.
Langsam werde ich mutig. Ich tausche meine rauhe leberfleckige Haut gegen eine neue aus, besorge mir eine schmalere Nase, halte nach filigranen Fingern Ausschau und suche nach Füßen, die nicht so aussehen, als hätten sie in einem früheren Leben einmal einem Hobbit gehört. Manchmal muss ich auch raten, ob ein “Spender” wohl der passende ist. Denn ich bekomme ja die Füße eines anderen nicht vorher zu sehen, wenn sie in dicken Botten stecken. Nur so ist zu erklären, dass ein besonderer Tausch am Ende dann doch im wahrsten Sinne in die Hose ging. Der große Bodybuilder mit den breiten Schultern hatte anscheinend nur ein Stummelchen.
Mit der Zeit optimiere ich trotz einiger Rückschläge alles, und ich meine wirklich alles. Irgendwann ist aber endlich der Zeitpunkt erreicht, an dem ich perfekt bin. Das ist wirklich schön, denn es macht jetzt richtig Spaß, mich mit stolzgeschwellter Brust in der Öffentlichkeit sehen zu lassen.
Gerade kommt mir ein verschwitzter, dicklicher Unsympath mit klebrigen, dünnen Haaren, fleckiger Haut und einem komischen Gang entgegen.
Freundlich nickt er mir zu. Ich nicke zurück. Und während ich weiterlaufe, merke ich ganz plötzlich: Das war überhaupt gar keine freundliche Geste. Schon fühle ich, wie sich mein Körper verändert und meine mühsam gestohlenen Eigenschaften wieder schwinden. Oh nein, das magische Körpertauschprogramm macht doch nur so lange Spaß, wie ich es ganz allein beherrsche. Jetzt muss ich wieder komplett von vorne anfangen. (CS)
Dieser Artikel stammt aus „Zehlendorf Aktuell“ Ausgabe 123 (6/2024).
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