Scheibes Glosse: Auf Arbeitsuche
Die lieben Kleinen werden größer. Und irgendwann kommt der Moment, da wandeln sie sich von elterlichen Schmarotzern in selbst Geld verdienende Mitglieder der Gesellschaft. Dieser Wandel gestaltet sich aber nicht immer einfach. Damals nicht. Und heute ist das leider nicht anders.
1970. Großer Esstisch im Wohnzimmer. Der Fernseher läuft. Mutter Sieglinde bringt das Essen auf dampfenden Tellern aus der Küche, es gibt Kassler mit Sauerkraut und Salzkartoffeln.
Vater Karl-Heinz raucht am Esstisch. Er bläst den Rauch über den Tisch, ohne darauf zu achten, dass ihm seine Kinder genau gegenübersitzen.
Er sagt: „Kai-Uwe, die zehnte Klasse ist vorbei, es wird Zeit, über deine Zukunft zu reden. Deine große Schwester habe ich im Büro von meinem Skat-Freund Peter unterbringen können. Bei dir wird es leider etwas schwieriger, weil du zwei linke Hände hast. Onkel Klaus ist aber bereit dazu, dich in seiner kleinen Kfz-Werkstatt aufzunehmen und dich auch auszubilden, wenn du dir etwas Mühe gibst.“
Kai-Uwe lässt die Gabel sinken: „Aber ich mache mir doch so gar nichts aus Autos.“
Vater Karl-Heinz saugt angespannt an seiner Zigarette: „Ich weiß, und das ist ja das Problem. Ich habe Onkel Klaus gesagt, du bist nur schüchtern, hast aber das Kinderzimmer voll mit Modellbausätzen von Oldtimern. Das hat ihn beruhigt. Nur die langen Zotteln müssen ab, du brauchst unbedingt einen anständigen Haarschnitt.“
Kai-Uwe: „Die Haare müssen so lang sein, ich will doch Musiker werden.“
Karl-Heinz: „So lange du deine Beine unter meinen Tisch legst…“
Kai-Uwe springt auf: „Dann ist es eben so: Ich ziehe aus! Nächsten Monat gehen wir sowieso mit der Band auf Tour. Die ‚Zünftigen Zehlendorfer‘ ziehen von einem Ort zum anderen. Und wenn ich erst einmal berühmt bin, wirst du sehen, dass ich von Anfang an Recht hatte. Und die Haare bleiben, basta!“
Mutter Sieglinde schlägt die Hände vor das Gesicht: „Kai-Uwe, tu uns das bitte nicht an, was sollen denn die Nachbarn denken!“
Kai-Uwe springt auf, läuft aus der Wohnung, die Eingangstür knallt ins Schloss.
2022. Großer Esstisch im Wohnzimmer. Es klingelt an der Tür. Tochter Gabi springt auf, um das gelieferte Essen an der Tür in Empfang zu nehmen. Es gibt vietnamesische Pho-Suppe in der veganen Version. Gabi stellt die Tüte mit den Plastikschalen auf den Tisch. Alle nehmen sich etwas, nur nicht der kleine Sebastian, der spielt lieber am Handy.
Vater Matthias seufzt und schaut seinen großen Sohn an: „Konstantin-Reuben, wir müssen reden. Du hast jetzt dein Abitur in der Tasche und nacheinander deine Studien zum Landwirtschaftsgärtner und zur Ägyptologie abgebrochen. Wie soll es nun weitergehen? Eine bessere Zeit als jetzt wird nicht kommen. Logistik, Gastronomie, Pflegedienste – alle suchen gerade händeringend Mitarbeiter, ohne allzu sehr auf Zeugnisse oder eine Qualifikation zu schauen. Das ist deine Chance.“
Konstantin-Reuben fährt sich mit den Fingern durch die Haare: „Dieses Arbeiten, wie ihr das kennt, das ist einfach nichts für mich. Acht Stunden malochen für fremde Leute, das hat doch keine Zukunft. Ich lebe nur einmal, ich kann nicht so viele Stunden am Stück vergeuden, damit sich ein fremder Chef die Taschen vollmacht. Ich muss meine Lebens-Essenz sinnvoll einsetzen.“
Vater Matthias wird deutlicher: „Du brauchst Geld in deinem Leben. Solange du bei uns wohnst, bezahlen wir den Einkauf, heizen dein Zimmer, kaufen deine Kleidung, kommen für deine Ausflüge mit den Freunden auf. Aber das hat ja einmal ein Ende. Du bist immerhin schon 27.“
Konstantin-Reuben: „Dann ziehe ich eben aus. Ich muss nicht heizen, ich habe dicke Pullis. Die Supermärkte schmeißen jeden Tag so viel Essen weg, das kann ich kostenfrei ‚retten‘. Ich brauche also gar nicht viel Geld.“
Mutter Sybille: „Aber denk doch mal an die Versicherungen. Du brauchst bestimmt auch ein Auto. Das kostet alles, Junge.“
Konstantin-Reuben winkt ab: „Macht euch keine Sorgen, liebe Eltern. Heute läuft alles ganz anders ab, als ihr das von früher her kennt. Ich kann bei meinen Freunden wohnen, mal einen Monat hier, einen Monat da. Und Geld verdiene ich auch. Ich bin jetzt bei Twitch und lasse mir live über das Internet dabei zuschauen, wie ich ein Buch lese. Das entspannt viele Leute mehr, als wenn sie selbst lesen. Ich habe schon zwölf Abonnenten für meinen Kanal. Ein paar tausend mehr und es rappelt auf meinem Konto. Da werdet ihr noch neidisch werden, was ich für Geld verdiene.“
Mutter Sybille schaut skeptisch, würde ihren Sohn aber eigentlich am liebsten gleich einweisen lassen: „Du meinst dieses Internet? Davon verstehe ich doch nichts.“
Konstantin-Reuben: „Online kann ich mich aber nicht länger Konstantin-Reuben nennen. Ich bin ab sofort die ‚Konstante R‘. Bitte sprecht mich nun auch so an!“
„Argh“. Vater Matthias versucht, sich an einem Stück Tofu selbst zu ersticken. (CS)
Dieser Artikel stammt aus „Zehlendorf Aktuell“ Ausgabe 104 (11/2022).
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