Scheibes Glosse: Im Home Office
Lockdown. Corona. Home Schooling. Home Office. Der Duden freut sich darauf, nach der Virus-Pandemie ein paar ganz neue Anglizismen in seinen Fundus aufzunehmen. Für mich ist eine Vokabel von ganz besonderer Bedeutung: Home Office. Ich muss nun zu Hause weiterarbeiten und bin plötzlich vom Kollegen-Tratsch, der Kaffeemaschine und dem superschnellen Firmeninternet abgeschnitten.
Tag 1 im Home Office: Ich bin voll bei der Sache und habe mir erst einmal einen tollen Arbeitsplatz im Wohnzimmer eingerichtet. Im Keller habe ich einen alten 15-Zoll-Röhrenbildschirm aufgetan, an den ich mein Firmen-Notebook anschließen kann. Zu dumm: Ich brauche dringend eine neue Brille, ich kann kaum etwas auf dem Bildschirm erkennen. Unser Zuhause-Internet ist leider so langsam, dass sich die Bytes in der Leitung einzeln zuwinken. Ich rufe den Chef an und frage ihn, was ich arbeiten soll. Er überlegt. Lange. Und sagt dann: „Was machen Sie eigentlich sonst immer? Na, Sie werden schon was finden.“ Plötzlich ist das Internet tot: Die Katze hat auf den Router gepinkelt.
Tag 10 im Home Office: Ich bin sehr artig und verlasse mein Haus gar nicht mehr, damit die Corona-Pandemie schnell vorbei geht. Null Kontakte, das ist mein neues Credo. Einkaufen gehen muss ich auch nicht. Die Vorratskammer ist seit Jahren gut gefüllt. Da ich sonst gern frisch einkaufe, stapeln sich die Konservenbüchsen seit Jahren ungenutzt im hinteren Eck. Ich futtere mich durch Ravioli, Spirelli-Nudeln und Chili con Carne. Dabei stelle ich fest, dass das aufgedruckte Mindesthaltbarkeitsdatum nur ein grober Richtwert sein kann. Die Ravioli waren doch tatsächlich schon zehn Jahre abgelaufen. Sie schmeckten köstlich. Ich habe seitdem nur immer so rosa Blitzer im peripheren Sichtbereich. Der Hund hat sich geweigert, den Nudeleintopf zu fressen, nur weil er grün schimmert. Mensch, so viel Skrupel habe ich doch bei seinem Fressen auch nicht.
Tag 15 im Home Office: Der Chef ruft an. Ich stelle fest, dass er meinen Namen vergessen hat. Statt klarer Anweisungen kommt ein etwas holpriges Motivationsgespräch: „Egal, was Sie da eigentlich machen, machen Sie so weiter. Sie machen das großartig.“
Tag 20 im Home Office: Ich weiß nicht, was ich arbeiten soll. Es interessiert leider auch keinen. Ich schicke vorsichtshalber Mails in die Firma mit Floskeln wie „läuft super“. Bei den wöchentlichen Videokonferenzen spiele ich Online-Poker. Dabei gucke ich nämlich besonders aufmerksam in meine Kamera. So sehe ich immer fleißig und motiviert aus. Den Ton schalte ich aus, das lenkt nur ab.
Tag 24 im Home Office: Ich habe jetzt die letzten fünf Jahrgänge GEO gelesen. Wusste ich doch, dass das Abo irgendwann für etwas gut ist. Auch die Lustigen Taschenbücher der Kinder habe ich durch. Donald als Phantomias – sehr lustig. Ich habe das Puzzeln für mich entdeckt. Seit 20 Jahren hab ich ein Puzzle mit 12.000 Teilen. Das habe ich mitten auf dem Küchenfußboden zusammengesetzt. Was ist eigentlich dieses Netflix?
Tag 45 im Home Office: Es klingelt an der Tür. Ich habe Angst und verstecke mich im Heizungskeller. Ich nehme einen großen Schraubenschlüssel in die Hand, man weiß ja nie. Nach sechs Stunden traue ich mich langsam wieder nach oben. Die Luft scheint rein zu sein. Mein Puls beruhigt sich langsam wieder. Das war aber knapp.
Tag 49 im Home Office: Netflix ist cool. Ich bin durch, ich habe alles gesehen. Ich hole mir noch Amazon Prime Video, Disney+ und Apple TV+. Irgendwie muss man die Tage ja rumkriegen. Auf Facebook bekomme ich ganz viele Freundschaftsanfragen von leicht bekleideten Frauen. Das sind aber nette Mädchen. Woher kennen die mich eigentlich? Im Büro habe ich die noch nie gesehen.
Tag 52 im Home Office: Die Firma hat von Anfang an eine Weiterleitung auf mein Privathandy geschaltet. Jetzt richte ich eine Weiterleitung auf mein Diensttelefon ein. Ich frage mich, wo jetzt wohl jemand landet, der mich geschäftlich sprechen möchte? In der Weiterleitung der Hölle? Ich bekomme aber zunehmend das Gefühl, dass sowieso niemand mehr anruft. Gibt es die Firma eigentlich noch?
Tag 58 im Home Office: Ich hab aufgehört zu arbeiten. Die Video-Konferenzen macht auch niemand mehr. Manchmal muss ich echt scharf nachdenken, was ich früher überhaupt gearbeitet habe. Ich stelle fest, es ist nett, den ganzen Tag Zuhause zu sein. Man hat so viel Zeit für wichtige Dinge. Ich habe aus weißen Reiskörnern eine 3D-Version vom Weißen Haus in Washington nachgebaut, immerhin 30 Zentimeter hoch. Und ich lerne gerade Suaheli. Dieses YouTube ist der Hammer, das kannte ich ja noch gar nicht.
Tag 63 im Home Office: Ich brauche kein Geld, ich gebe auch keins mehr aus. Ich war jetzt seit 35 Tagen nicht mehr duschen, auch das Zähneputzen habe ich sein gelassen. Ich müffle anscheinend so sehr, dass der Hund immer wieder schnuppernd ins Home Office kommt und überall nach etwas Verfaultem sucht, in dem er sich freudig wälzen kann.
Tag 225 im Home Office: Die Vorräte sind alle, ich muss wohl oder übel das Haus verlassen. Ich habe Angst, draußen Menschen zu begegnen. Gibt es wohl noch welche? (Carsten Scheibe)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 83 (2/2021).
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