Scheibes Glosse – Hindernislauf
Was kann man im Lockdown schon groß unternehmen? Es bleibt nur eins: Ich gehe einkaufen. Und das täglich, damit ich unter Menschen komme. Dabei kann ich aber eins nicht leiden – und das hat nichts mit Corona zu tun: Wenn sich mir Leute unmotiviert in den Weg stellen. Ich möchte mit meinem eigenen Tempo durch die Gänge eilen, ohne dabei zu einem Hindernislauf gezwungen zu werden. Doch meine Mitmenschen sehen das leider ganz anders.
Das Drama beginnt bereits beim Auslösen eines Einkaufswagens. Da steht ein breiter Mann so vor dem Glashäuschen mit den geparkten Wagen, dass er beide Schlangen blockiert und kein Vorbeikommen möglich ist. Er hält sein Portemonnaie aufgeklappt und sucht nach dem passenden Euro. Dabei sortiert er sein Kleingeld anscheinend nicht nur nach Farben und Größen, sondern auch nach den Prägeorten der einzelnen Münzen: Es dauert ewig. Dabei weiß jeder Einkaufsprofi: Den Euro hat man sich schon vor dem Losfahren in die hintere Gesäßtasche gepackt, sodass man an dieser Station keine Zeit verschwendet.
Im Supermarkt angekommen gibt es einen breiten Hauptgang. Der verteilt die einkaufswilligen Gäste auf die einzelnen Quadranten im Markt. Hier ist Tempo angesagt, es darf kein Stau entstehen. Leider haben die meisten Einkäufer keinen Sinn für Tempo: Sie gehen so selbstvergessen zu zweit nebeneinander durch den Hauptgang, dass rechts und links weder Überholspur noch Rettungsgasse bleiben. Dabei geben sie ein Tempo vor, als gelte es, jede Fliese im Markt äußerst akribisch auf Flecken oder Staubflusen hin zu überprüfen. Mensch: Der Hauptgang, das ist die Autobahn des Supermarkts. Links wird überholt. Wer die Rollen des Einkaufswagens hier nicht zum Rauchen bringt, hält sich bitte ängstlich rechts oder verzieht sich am besten in einen ruhigen Nebengang. Also wirklich!
Irgendwann schiebe ich meinen Wagen über die Nordumfahrung zwischen Pasta und Reis – und muss dabei an der Tütenwand vorbei. Die Tüten bieten pulverisierten Geschmack für Bolognese, Chop Suey oder Schichtkohl an. Hier hat eine Großfamilie die eigenen Einkaufswagen so ineinander verkeilt, dass man spontan den Eindruck bekommt, es sei zu einer Massenkarambolage mit mindestens einem Schwerverletzten gekommen. Doch es gab gar keine Katastrophe am Suppenregal. Denn die Familie diskutiert lautstark darüber, was wohl die kommenden Tage Zuhause gespeist werden soll. Der Papa möchte Sahneschnitzel, was der Mama zu fettig ist. Sie würde gern einen Nudel-Schinken-Gratin zubereiten. Die Kinder wollen Köttbullar wie bei IKEA, Jägerschnitzel oder eine Chili con Carne. Ich schlage vor, sie sollen sich auf Putengeschnetzeltes einigen, aber um Himmels Willen den Weg frei machen, bevor ich sie dazu zwinge, das Pulver mit dem Strohhalm durch die Nase ins Kleinhirn zu saugen. Meine Drohungen fruchten aber nicht. Am Ende muss ich klein beigeben und einen lästigen Umweg über die Marmeladenabteilung in Kauf nehmen. Denn die Familie hat beschlossen, den Familienrat zu befragen: Jetzt wird auch noch die Oma ans Telefon geholt.
Überall stehen Wagen quer im Weg, weil die Einkaufenden (hey, der Shoppingwahn bringt mich sogar zum Gendern) beim Sichten der Auslagen vergessen, dass es auch noch andere Menschen im Universum gibt, die den gleichen Gang benutzen möchten. Himmel, das ist ja wie beim Autoscooter. Ich hasse es.
Die Obst- und Gemüseabteilung ist das heimliche Zentrum eines jeden Supermarktes. Es ist das Nahkampf-Dojo der gestressten Einkäufer, die zwischen Paprika-Kiste und Apfelangebot ein exponenzielles Ansteigen der eigenen Aggression verspüren und am liebsten mit der Lauchstange auf andere Kunden einprügeln würden, die gerade die Wiegestation blockieren. Hier wird auch sehr gern geschaut, wie tief sich der Daumen prüfend in einer Mango, Avocado oder Banane versenken lässt, um so den Reifegrad zu ermitteln. Ich habe keine Nerven für vegane Blockaden: Obst und Gemüse fallen heute aus.
Und dann werde ich auch noch gezwungen, selbst für andere ein Hindernis zu sein. Warum gibt es keinen einheitlichen Ort auf der Verpackung, an dem die Firmen das Mindesthaltbarkeitsdatum aufdrucken müssen? So drehe ich Quarkbecher, Butterwürfel, Joghurtgläser und Milchtüten häufiger als den Rubiks Würfel, um herauszufinden, wie viel Tage ich noch zum gefahrlosen Verzehr habe.
An der Kasse suche ich nach der kürzesten Schlange. Klar, dass der Kundin vor mir die Milch ausläuft, der Scanner bei vielen Artikeln nicht funktioniert und die EC-Karte abgelaufen ist.
Zurück auf dem Parkplatz regen sich ein paar Leute darüber auf, dass ein Kunde sein Auto gleich über zwei Parkplätze hinweg geparkt hat. Himmel, was für ein Idiot. Ich kann es einfach nicht leiden, wenn sich die Leute nicht umsichtig verhalten. Da habe ich echt eine Neurose. Am liebsten würde ich eingreifen und das Auto mit dem Bagger beiseite schieben.
Oh, anscheinend ist es mein Auto. Mensch Leute, seid doch mal ein bisschen tolerant. Entspannt euch! Es ist doch so ein herrlicher Tag. (Carsten Scheibe, Foto: Tanja Marotzke)
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 82 (1/2021).
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