Der Erzählverlag: Zehlendorfer Verlag bricht Lanze für das mündliche Erzählen!
Peter Amsler (49) stammt aus dem Sauerland. Er studierte Germanistik und Politische Wissenschaften und arbeitete viele Jahre lang als Referent für Menschenrechtsfragen. Die Arbeit macht im Jahr 2000 einen Umzug nach Berlin notwendig: „14 Jahre lang habe ich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für eine Nichtregierungsorganisation gemacht. … (ANZEIGE)
… Das hilft mir sehr bei meinem Erzählverlag, den ich 2018 in Zehlendorf gegründet habe.“
Den Namen Erzählverlag trägt der Verlag nicht zu Unrecht. Peter Amsler: „Ich habe einige Jahre lang als Klassenlehrer in einer freien Waldorfschule gearbeitet. Hier gibt es die Methode des freien mündlichen Erzählens. Am Ende einer Unterrichtsstunde erzählt der Lehrer frei und mündlich eine Geschichte. Die Schüler haben viel Freude an dieser Erzählform und prägen sich auf diese Weise vermittelte Inhalte besonders nachdrücklich ein. Die Kinder folgen den Erzählungen sehr aufmerksam und sind innerlich mehr ergriffen als bei der klassischen Unterrichtsform. Im Erdkundeunterricht habe ich so etwa eine Erzählung über eine Wanderung über den Brocken erfunden, in der es auch um den Bergbau ging und darum, wie die Menschen die Landschaft verändern. Das Erzählen ist die älteste Kulturtechnik, die es gibt. Bereits ganz früher am Lagerfeuer haben die Menschen sich schon von ihren Erlebnissen erzählt.“
Dem Waldorflehrer fiel allerdings auf, dass es für das freie Erzählen vor der Klasse kaum geeignete Printvorlagen gibt. In seinem Erzählverlag schafft er sie selbst: „Im Erzählverlag gibt es eine eigene Buchreihe mit den sogenannten ‚Erzählheften‘ für die Schule.“
Diese Erzählhefte sind recht groß, sodass sie sich auch stehend gut in der Hand halten lassen. Sie enthalten eine umfassende Einleitung, die in den zu vermittelnden Stoff einführt und auch erklärt, wie er zum Lehrplan der Schulen passt: „Der eigentliche Text ist sehr groß gesetzt, sodass er sich leicht ab- und vorlesen lässt. In der Spalte daneben ist ausreichend Platz für persönliche Notizen. Ein wissenschaftlicher Teil am Ende hilft dabei, das Thema noch zu vertiefen.“
Bereits vorhandene Erzählhefte nehmen sich die Gründungstage Berlins oder das Gilgamesch-Epos als Thema vor. Biblische Geschichten für den Religionsunterricht sind ebenso in Planung wie Erzählhefte für die Fächer Chemie oder Physik. Peter Amsler: „Gerade in den Naturwissenschaften sind viele Sachthemen möglich. So kann man über die Erfindung des Vulkanisierens erzählen und dabei auch spannend über Charles Goodyear berichten, der während seiner Tätigkeit vier Mal in die Pleite getrieben wurde.“
Eine andere Reihe aus dem Erzählverlag nennt sich Westentaschenerzähler. Auch diese Bücher fokussieren sich ebenfalls auf den Bereich Erzähler. Hier geht es um Autoren, die ihre Geschichten auf Lesungen, im Rahmen von Aufführungen oder auf Poetry Slams vor Publikum vortragen. Diese Bücher sind klein und handlich, verwenden aber ebenfalls eine große Schrift, sodass sich aus ihnen leicht vorlesen lässt. Peter Amsler: „Die große Schrift erlaubt es den Erzählern auch, in den Büchern zu arbeiten. Sie können so etwa per Notiz Sätze umstellen oder Wörter austauschen, wenn sich dann die Texte besser vorlesen lassen.“
Ein äußerst interessantes Buch aus der Reihe heißt „Nebel überm Müggelsee“. Es sammelt sechs Alt-Berliner Sagen, die neu erzählt werden. Die Autorin klärt, wie Albrecht der Bär aus Liebe Berlin gründete, warum eine Riesin den Berlinern eine Rippe schenkte oder wie die Jungfernbrücke zu ihrem Namen kam.
In zwei Bänden bereitet Janine Schweiger jeweils fünf Märchen der Gebrüder Grimm so auf, dass sie sich auf der Bühne leicht erzählen lassen.
Peter Amsler: „Wir arbeiten sehr regional. Viele meiner Autoren stammen direkt aus der Nachbarschaft und wohnen im Zehlendorfer Kiez. In Laufnähe zum U-Bahnhof ‚Onkel-Toms-Hütte‘ ist so auch meine Autorin Eike Kathrin Asen Zuhause. Sie ist bereits 76 Jahre alt und verfasst feine Beobachtungen aus dem Liebesleben, die mal leise, mal lakonisch, mal derb erzählt werden. Texte aus ihrem Buch ‚Knopf ohne Knopfloch‘ werden sehr gern auf Poetry Slams gelesen.“
Als Band 7 der Westentaschenerzähler ist gerade „Zeus und Co.“ von Michl Zirk erschienen – mit griechischen Mythen um den Göttervater Zeus und seine Kinder. Der fränkische Geschichtenerzähler ist bereits seit fünfzehn Jahren mit diesen spannenden Erzählungen auf den deutschen Kleinkunstbühnen unterwegs.
Das Buch „Unternehmen Weihnachtshase“ von Michl Zirk erzählt die Geschichte „als Paul den Hasen Willi rettet und auf eine abenteuerliche Reise geht.“ Peter Amsler: „Das ist eine kleine, feine Geschichte zum Verschenken. Sie richtet sich nicht nur an professionelle Erzähler, sondern auch an die Eltern. Eltern, die ihren Kindern eine Geschichte erzählen, sind ja die ursprünglichste Form der Erzähler.“
Wie eine mündliche Erzählung letztlich zu einem neuen Buch führte, zeigt der Einzeltitel „Tonka – Mädchen der Sioux“ von Uwe Münkemüller. Peter Amsler: „Der Autor lebt auch bei uns im Kiez in der sogenannten Papageiensiedlung am U-Bahnhof ‚Onkel-Toms-Hütte‘. Er hat drei Töchter, denen er abends beim Zubettbringen immer eine Geschichte erzählt hat. Eben vom kleinen Sioux-Mädchen Tonka, das strahlend blaue Augen hat, sodass man ja schon davon ausgehen kann, dass es sich bei dem Mädchen nicht um eine echte Indianerin handelt. Die Geschichte, die zusammen mit den Mädchen entwickelt wurde, richtet sich an Kinder zwischen neun und zehn Jahren. Toll finde ich, dass es in dem Buch auch um Herkunft und Identität geht. Das Buch verkauft sich so gut, dass die Familie bereits am zweiten Band arbeitet. Der soll noch in diesem Jahr erscheinen.“
Der verheiratete Verlagsleiter, der selbst drei Kinder hat und seinerzeit die jährliche „Lange Nacht der Religionen“ in Berlin mit begründet hat, freut sich über das wachsende Interesse an seinem Verlagsprogramm: „2019 haben wir die Bücher noch ganz nach Bedarf gedruckt, inzwischen verwenden wir immer häufiger einen Auflagendruck. Sechs Quartale liegen hinter uns – und jedes Quartal war erfolgreicher als das davor. So kann es gern weitergehen.“
Ein Herzensanliegen ist Peter Amsler auch das „biografische Erzählen“: „Im Entstehen ist das Buch ‚Neun Leben‘, in dem wir neun Menschen aus unterschiedlichen Religionen befragt haben, wie sie zu ihrer Religon gefunden haben und wie sie sie leben. Erstaunlich ist hier, dass sich die Religionen zwar sehr unterscheiden, das Erleben der Gläubigen aber fast identisch ist, was Zweifel oder Glaubenserlebnisse anbelangt.“ (Text/Fotos: CS)
Info: Erzählverlag, Reiherbeize 26, 14169 Berlin, Tel.: 030-92275249, www.erzaehlverlag.de
Dieser Artikel stammt aus „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 70 (1/2020).
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