Eine Million Arten vom Aussterben bedroht: Interview mit Professor Dr. Thomas Borsch, Biologe und Direktor des Botanischen Gartens und des Botanischen Museums Berlin
Das Insektensterben ist eins der großen Themen, die Deutschland zurzeit umtreibt. Erst starb nur die Biene, inzwischen bleibt bei langen Autofahrten oft die Frontscheibe sauber: Die Anzahl der Insekten im Land soll dramatisch gesunken sein. Das ist nur der Anfang, sagt der Weltbiodiversitätsrat. Er hat Anfang Mai einen Bericht vorgelegt, nachdem eine Million Pflanzen- und Tierarten in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vom Aussterben bedroht sind.
Professor Dr. Thomas Borsch, Biologe und Direktor des Botanischen Gartens und des Botanischen Museums Berlin der Freien Universität, geht sogar noch weiter: „Es geht nicht nur darum, dass eine Million Arten komplett von unserem Planeten verschwinden werden. Zugleich erfahren die übrigen Arten massive Verluste ihrer genetischen Vielfalt. Diese ist aber der Garant für ein Überleben der Art – und somit ist das Artensterben noch viel dramatischer als bislang diskutiert.“
Denn dass die Insekten aussterben, sei im Grunde genommen nur eine Folge davon, dass auch viele Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind. Thomas Borsch: „Gerade die Älteren kennen aus ihrer Jugend noch blühende Wiesen. Die gibt es inzwischen gar nicht mehr, die Vielfalt fehlt. Eine grüne Wiese mit viel Löwenzahn sieht für den Laien zwar gesund aus, beherbergt aber nur sehr wenige Arten. Ich nenne das eine grüne Wüste. Wir brauchen mehr karge Magerwiesen mit einem hohen Artenspektrum. Aber wo gibt es sie noch? Ich bin letztens mit dem Zug von München nach Berlin gefahren und habe auf dem ganzen Weg keine einzige solche Wiese gesehen.“
Es reicht nicht aus, eine Pflanzenart nur in wenigen Schutzgebieten oder eben im Botanischen Garten zu erhalten. Denn es geht auch um die genetische Vielfalt innerhalb einer Art. So kann es bereits innerhalb einer Art zu genetischen Unterschieden kommen – abhängig vom jeweiligen Lebensraum. Das Team von Dr. Borsch hat so etwa die Arnika-Heilpflanze analysiert, die früher noch sehr häufig war, inzwischen aber nur noch in den Alpen häufig vorkommt und im norddeutschen Tiefland bereits fast ausgestorben ist: „Alarmierend ist: Auch früher häufigen Pflanzenarten geht es massiv an den Kragen. Die Intensivierung der Landnutzung, aber auch das Ausräumen der Landschaft gerade in den letzten 20 Jahren hat zu einem flächenhaften Verlust vieler Pflanzen und anderer Organismen geführt. So kommt es zu einer dramatischen genetischen Verarmung innerhalb einzelner Arten.“
Die Arnika, die nahe der Ostsee vorkommt, ist eben nicht die gleiche wie in den Mittelgebirgen oder in den Alpen. Grund dafür ist die natürliche Evolution, die dafür sorgt, dass sich die Pflanzen im Wechselspiel zwischen Genen und Umwelt regional angepasst haben. Thomas Borsch: „Gerade die Arnika-Pflanzen des Tieflandes kommen mit wärmeren Bedingungen gut zurecht. Aufgrund des Klimawandels könnten gerade diese Vorkommen ein großes Potential für das Überleben der Art haben: Die genetische Vielfalt hilft beim Überleben. Wenn aber diese genetische Linie ausstirbt, dann wird der ganzen Art die Zukunft genommen.“
Pflanzen sind die Grundlage für alles. Sie produzieren Sauerstoff, sie gelten anderen Organismen als Nahrung, sie schaffen Rohstoffe und sie sind für die Medizin unverzichtbar. Thomas Borsch: „Das große Pflanzensterben betrifft uns alle. Denn ohne pflanzliche Vielfalt gibt es kein Überleben!“
Aber: „Der aktuelle Trend, eine wahllos zusammengestellte Tüte mit Pflanzensamen als Beigabe zu Konsumgütern zu legen, um etwas gegen das Insektensterben zu tun, ist wenig hilfreich!“, kritisiert Thomas Borsch. Denn zum einen gibt es für komplexe Probleme nun einmal keine einfachen Lösungen. Blühstreifen sind für den Wissenschaftler so etwas wie die moderne Ablass-Kultur einer Bevölkerung, die glaubt, die falsch eingeschlagenen Wege der letzten Jahrzehnte mit ein paar ausgebrachten Pflanzensamen beheben zu können. Thomas Borsch: „Viele der Samenmischungen sind nur danach zusammengestellt, dass die Pflanzen am Ende bunt blühen und schön aussehen. Dass aber auch invasive Arten wie die Lupine mit im Saatgut stecken, zeigt bereits, dass der ganze Ansatz falsch gedacht ist. Nötig ist eher ein ganzheitlicher Ansatz mit viel Wissen über die Pflanzen und deren Beziehungen zu anderen Organismen, um lokal und regional gute Maßnahmen umsetzen zu können. Wirklicher Insektenschutz muss vor allem heißen, die natürlichen Lebensräume von Insekten zu schützen oder auch wieder herzustellen. Und dabei spielt die für die Insekten wichtige Pflanzenvielfalt eine Schlüsselrolle, denn gerade seltene Insektenarten sind auf seltene Pflanzenarten spezialisiert.“
Um das Wohlergehen auch der Menschheit zu bewahren, muss ein Umdenken stattfinden, was Konsumverhalten, Lebensstil, Landwirtschaft und Mobilität anbelangt. Thomas Borsch: „Noch ist es nicht zu spät, aber wir können uns keine weiteren Verluste leisten. Und wir müssen alle aktiv werden! Denn der Motor des großen Sterbens ist der Mensch.“
Tatsache ist, dass es bereits einen sehr ausgeklügelten Plan zur Erhaltung der Biodiversität in Deutschland gibt. Hier geht es um die „Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt“, die vom Bundeskabinett am 7. November 2007 beschlossen wurde. Diese Strategie umfasst Ansätze für einen Schutz der genetischen Vielfalt, der Artenvielfalt und der Lebensraumvielfalt. Thomas Borsch: „Dieses Konzept ist sehr gut, es muss jetzt aber auch ohne Wenn und Aber umgesetzt werden.“
Zum aktuellen Zeitpunkt ist es nämlich das Wichtigste, die artenreichen Lebensräume und die Vorkommen seltener Arten schnell zu sichern, solange sie noch vorhanden sind. Das kann jedoch nur mit Hilfe entsprechender politischer Weichenstellung gelingen.
Ein weiteres Problem auf dem Weg zum Erhalt der einheimischen Arten sind übrigens die invasiven Pflanzen, die sich hierzulande leider stark verbreiten und dabei eine räumliche Verdrängung mitunter seltener Pflanzen vornehmen. Thomas Borsch: „Ich denke da an die Goldrute und die Robinie. Die Robinie gilt mit ihren Blüten zwar als Bienenparadies. Ansonsten ist der Baum aber steril – keine Insekten leben auf ihm. Außerdem reichert die Robinie Stickstoff im Boden an. Dadurch verschwindet die artenreiche Krautschicht und am Ende wachsen dort nur noch Brennnesseln.“ (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel wurde in „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 63 (6/2019) veröffentlicht.
Zusatzinfo
Thomas Borsch: „Im Innenhof des Botanischen Museums haben wir auf dem Dach des Herbariums-Gebäudes mit regionalem Saatgut eine gebietstypische Magerwiese angelegt. Wo früher ein Parkplatz war, tummeln sich jetzt viele Insekten“.
Seitenabrufe seit 24.06.2019:
Sie haben eine Artikelidee oder würden gern eine Anzeige buchen? Melden Sie sich unter 03322-5008-0 oder schreiben eine Mail an info@zehlendorfaktuell.de.
Anzeige