Weltgästeführertag in Zehlendorf: Bruno Taut im Blick
Berlin ist eine große Stadt mit einer einzigartigen Vergangenheit, die mitunter an den zunächst unscheinbarsten Ecken sichtbar wird. Um den Bewohnern der Stadt ebenso wie den Touristen neue Erkenntnisse zu vermitteln, treten die „Gästeführer“ an. Diese Stadtführer kennen sich bestens in ihrem Viertel aus und führen gern eine Gruppe interessierter Menschen durch die Straßen, …
… um ihnen – ausgestattet mit vielen Fakten – ein neues Bild der Nachbarschaft zu vermitteln.
Gästeführer wie in Berlin gibt es auf der ganzen Welt. Sie haben sogar einen gemeinsamen Tag, der immer am 21. Februar gefeiert wird – das ist der Weltgästeführertag. Am 23. Februar lud der Verband der Berliner Stadtführer Berlin Guide e.V. (www.berlin-guide.org) zu einem Empfang in den Bruno Taut Laden in der Ladenstraße gleich neben dem Zehlendorfer U-Bahnhof „Onkel-Toms-Hütte“ ein.
Dieser Ort war nicht ganz zufällig gewählt. Passend zum großen Berlin-Event „100 Jahre Bauhaus“ hatte der Verband für den Weltgästeführertag das Motto „BAUeinHAUS“ ausgerufen. Da passt die „Waldsiedlung Onkel Toms Hütte“, die eine von sieben Siedlungen der Berliner Moderne ist, perfekt zum Thema.
Ute Rother-Kraft vom „Verein Papageiensiedlung“ (www.papageiensiedlung.de) eröffnete die Veranstaltung: „Wir sind angetreten, um das Erbe Bruno Tauts zu bewahren, der als Architekt unserer Nachbarschaft seinen Stempel aufgedrückt hat. Er hatte ein außergewöhnliches soziales Gewissen und hat seine Pläne gegen große Widerstände durchgesetzt. Wir haben einen Führer über die Waldsiedlung geschrieben, der inzwischen auch digitalisiert vorliegt (http://oth.erstberlin.de). Wir sind sehr froh, dass die Berliner Gästeführer diese Führung mit in ihr Programm aufgenommen haben.“
Cerstin Richter-Kotowski, Bezirksbürgermeisterin von Steglitz-Zehendorf, sprach zu weit über einhundert neugierigen Berlinern, die zu der Veranstaltung gekommen waren: „Die Waldsiedlung Onkel Toms Hütte ist eine einzigartige Siedlung im Bauhausstil und damit ein Magnet für die Menschen, die Berlin besuchen. Früher war es so, dass die Berlin-Besucher immer nur die Attraktionen im inneren S-Bahn-Ring kannten. In die Außenbezirke fuhr aber leider niemand. Mit dem Tourismuskonzept ‚2018+‘ wollten wir die Tourismusströme entzerren und in die Außenbezirke lenken. Das ist uns gelungen. Das Thema Bauhaus ist übrigens ein international sehr starkes Thema, das wird noch auf Jahre hinaus ziehen und Touristen nach Berlin führen.“
Markus Müller-Trenckhoff lud die Besucher als Vorsitzender des Berliner Gästeführer Verbandes zu etwa einstündigen kostenfreien Führungen durch die Taut-Siedlung ein. Sieben Gästeführer (von etwa 320 Mitgliedern des Verbandes in Berlin) sammelten die flanierlustigen Bürger ein und brachen mit ihnen zur Mittagszeit bei schönstem Sonnenwetter zu einer Erkundung der Nachbarschaft auf. Markus Müller-Trenckhoff: „Dabei hat jeder Gästeführer sein ganz eigenes Programm vorbereitet, sodass jede einzelne Führung einen anderen Fokus hat.“
Heide Wohlers vom Standortmanagement Onkel Toms Hütte (www.onkeltomsladenstrasse.de) machte vor dem Aufbruch der Taut-Interessierten noch einmal darauf aufmerksam, dass die „Waldsiedlung Onkel-Toms-Hütte“ auf dem Weg dazu sei, UNESCO Weltkulturerbe zu werden: „Zur Geschichte der Ladenstraße im Zentrum der Waldsiedlung gibt es übrigens eine plakatierte Ausstellung auf den Schaufenstern unserer Nahkauf-Filiale.“
Michael Pawlik als Leiter der Wirtschaftsförderung von Steglitz-Zehlendorf nutzte die Gelegenheit, um den Anwesenden von der im letzten Jahr aufgelegten Dahlem-Route und den noch in diesem Jahr avisierten neuen Fahrradrouten Wannsee-Babelsberg und Nikolassee zu berichten. Neugierig schloss er sich anschließend der Führung von Gästeführer Martin Bröcker an. Er erkundete mit seiner Gruppe den von der U-Bahn aus südlich gelegenen Bereich der Wald-Siedlung – dieser wurde zeitlich noch vor dem nördlichen Teil gebaut.
Martin Bröcker: „Die Weimarer Republik hatte den Wohnungsbau zur Hauptaufgabe nach dem Krieg erklärt, denn seit 1910 waren keine neuen Wohnungen mehr gebaut worden. In Berlin herrschten unmenschliche Wohnbedingungen. Es hieß deswegen bald per Gesetz: ‚Jeder Deutsche hat das Recht auf eine gesunde und angemessene Wohnung‘.“
Die staatlich aufgelegten Programme zur Förderung des Wohnungsbaus griffen allerdings nicht – und dann kam 1923 auch noch die Inflation. Es war also kein Geld mehr für den Bau vorhanden. Also bat man 1924 per Reichsgesetz die Hausbesitzer zur Kasse. Als Gewinner der Inflation (ihre Hypotheken wurden alle gelöscht) hatten sie die ‚Hauszinssteuer‘ zu bezahlen. Diese Einnahmequelle machte bald zehn Prozent der Landeshaushalte aus – und jedes Land durfte selbst entscheiden, wie das Geld einzusetzen ist. 1924 war also Geld für den Wohnungsbau da. Um massenhaft Wohnungen bei zugleich günstigen Mieten bauen zu können, wurde das Konzept der ‚Kleinwohnung‘ entworfen.
Die seit 1982 unter Denkmalschutz stehende Waldsiedung Onkel-Toms-Hütte wurde von 1926 bis 31 von der GEHAG gebaut. Das Kürzel GEHAG steht für ‚Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft‘. Damals brach die goldene Zeit des gemeinnützigen Wohnungsbaus an. Diese Gesellschaften mussten keinen Profit erzeugen und konnten so deutlich preisgünstiger bauen als Privatfirmen.
Der Architekt Bruno Taut hatte vorher bereits mit der GEHAG in Britz zusammengearbeitet und hier die Hufeisensiedlung entworfen. 1926 ging es los in Zehlendorf. Die Zehlendorfer, die bislang nur Villen kannten, hatten allerdings große Angst vor den „Arbeiterwohnungen“. Sie fürchteten, proletarisiert zu werden. Dr. Martin Wagner als Oberbauleiter vor Ort wartete deswegen gar nicht erst auf die immer wieder herausgezögerte Baugenehmigung und legte schon einmal ohne sie los. Das sorgte schnell für Ärger, Polizei auf der Baustelle und eine hohe Geldstrafe. Die wollte Wagner nicht bezahlen, lieber wäre er in den Knast gegangen. Das rief die Presse auf den Plan. Dem öffentlichen Druck musste das Amt nachgeben – die Baugenehmigung wurde erteilt.
Die Zehlendorfer waren trotzdem nicht sehr angetan von der bunt angemalten Siedlung mit den Flachdächern. Sie nannten die Siedlung abfällig „Papageiensiedlung“ – und es entbrannte der „Zehlendorfer Dächerkrieg“ um die Frage „Flach- oder Spitzdach?“. Martin Bröcker: „Für die alten Zehlendorfer sahen die Häuser mit Flachdach aus wie Gefängnisse aus dem Orient. Bruno Taut reagierte und baute den Wohnblock ‚Peitschenknall ins Gesicht der Bourgeoisie‘, der 450 Meter an der Argentinischen Allee entlangführt. An der Ecke Argentinische Allee und Riemeisterstraße steht übrigens seit 1988 auch eine Gedenktafel für Bruno Taut.“
In der neuen Waldsiedlung wurden die Mieten für die 60-Quadratmeter-Wohnungen dann allerdings doch mit recht hohen 70 Reichsmark angesetzt. Die Folge: Nur höhere Angestellte aus der Mittelschicht konnten sich eine Wohnung in den bunten Häusern leisten. Es entstand also doch keine Arbeitersiedlung – und Zehlendorf war wieder halbwegs versöhnt.
Interessant: An der Straßenkreuzung Riemeisterstraße und Im Gestell kann man das Wirken von gleich drei Architekten bestaunen. Bruno Taut, Otto Rudolf Salvisberg und Hugo Häring haben den Wohnblöcken, die hier aneinanderstoßen, jeweils ihren individuellen Stempel aufgedrückt. Es ist interessant, den Blick schweifen zu lassen und Unterschiede in der Bauweise zu ergründen.
Bruno Taut hat im 4-Straßen-Eck Riemeisterstraße, Wilskistraße, Waldhüterpfad und Im Gestell auch einen einzigartigen Komplex aus einzelnen Wohnblöcken geschaffen, die einen großen, grünen Innenhof einfassen. Heute darf der Innenhof nur von den Mietern genutzt werden, früher stand er aber allen Bewohnern der Waldsiedlung offen.
Martin Bröcker: „Dies war der Gemeinschaftshof der ganzen Siedlung. Er hieß ‚Kiefernhof‘. Große Feiern fanden hier in jedem Jahr statt. Da gab es einen Umzug durch die ganze Siedlung – mit einem riesigen Wels aus Pappmaché, der auf einem Wagen stolz durch die Straßen gezogen wurde. Im Hof wurde dann das Fischtalfest der Siedlung begangen. Nach 1933 gab es ein Verbot, das Fischtalfest weiter durchzuführen. Man fürchtete, dass sich sozial-demokratische Ideen an den Tischen verbreiten.“ (Text/Fotos: CS)
Hinweis: Wer selbst auf den Spuren von Bruno Taut wandeln möchte, ruft hier die digitale Führung auf: http://oth.erstberlin.de/onkel_tom_tour.
Dieser Artikel wurde in „ZEHLENDORF.aktuell“ Ausgabe 60 (3/2019) veröffentlicht.
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