Scheibes Kolumne: Die ganze Welt verblödet
Ich wollte schon immer Wissenschaftler werden. Oder Journalist. Beides impliziert, dass ich gern weiß, wie die Dinge funktionieren. Damals als Kind, da war doch jeder noch ein echter Experte. Ich hatte den obligatorischen Freund, der wusste alles über Dinosaurier. Der andere konnte nur am Klang der Motoren erkennen, was für eine Automarke da jenseits des Kinderzimmers über die Straße bretterte.
Der nächste konnte alle derben Scherze aus den MAD-Heften zitieren. Ich ergänzte dieses Trio und war dazu in der Lage, jeden Käfer und jede Spinne beim Namen zu nennen.
Damals war die Chemie mein Ding. Ich hatte ein eigenes Labor im Luftschutzbunker meines Opas – und das Buch „Chemische Experimente, die gelingen“. Die Stadtbibliothek war damals mein Eldorado des Wissens. Denn zu meiner Jugend war das Internet noch nicht erfunden, es gab keine Computer und erst recht keine Smartphones.
Ich weiß noch, in der Stadtbibliothek, da gab es drei, vier Chemie-Bücher, die ich mir immer im Wechsel auslieh, um Fachwörter nachzuschlagen, die ich nicht verstand.
Zu der Zeit gab es im öffentlich-rechtlichen TV immerhin noch das Bildungsfernsehen. In den Nachmittagsstunden wurden staubtrockene Lehreinheiten ausgestrahlt – zu Themen wie Atombindungen, Redox-Potenzialen oder Organischer Chemie. Sendungen, die ich mit Leidenschaft verschlang.
In dieser Vergangenheit stellte ich mir vor, wie das Wissen der Menschheit mit den Jahren nicht nur linear, sondern exponenziell wachsen würde. All diese Kinder-Experten würden einmal erwachsen sein und mit ihren Forschungen dazu beitragen, dass die Dinosaurier tiefschürfender erforscht, bessere Motoren für die Autos gebaut und schlauere Witze in den Zeitungen erzählt werden.
Die Erfindung des Internets war in meiner Vorstellung ein zusätzliches Raketentriebwerk. Dank der globalen Vernetzung der schlauen Köpfe und der permanenten Abrufbereitschaft des gesammelten Wissens würde die Menschheit doch deutlich schneller schlau werden als erwartet. Sicherlich würde es nicht mehr lange dauern, bis die Menschheit den Krebs besiegt, Viren ausrottet, das Unsterblichkeits-Gen findet, zu den Sternen reist und in den subatomaren Raum vordringt.
Die Realität sieht leider ganz anders aus. Ein winziger Teil der Menschheit wird tatsächlich immer schlauer. Aber der große Rest ist vorher falsch abgebogen und in Doofistan gelandet. All die in mühevollen Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse der Forscher werden plötzlich von wissenschaftlich völlig unbeleckten Bürgern wieder in Frage gestellt.
Wusste die letzte Generation noch den Unterschied zwischen Sonnen und Planeten zu erklären, so glauben inzwischen wieder viele Menschen, dass die Erde eigentlich eine Scheibe ist.
Alles Wissen dieser Welt ist tatsächlich inzwischen im Internet vorhanden – es wird aber leider zugedeckt mit einer sehr dicken Flusen-Schicht aus in die Irre führenden Fake-News, religiösem Fanatismus, sinnlosen Sinnsprüchen, Katzenbildern, buntem Gesellschafts-Klatsch, derben Scherzen und Propaganda-Meldungen rechts und links an der Wirklichkeit vorbei.
Das Problem: Das echte Wissen, es interessiert niemanden mehr. Folgte man früher Neil Armstrong auf den Mond und schaute Watson & Crick bei der Entschlüsselung der DNA-Doppelhelix zu, so starrt die Welt heute gebannt auf minderjährige Influencer, die auf YouTube Schminktipps zum Besten geben. Die Heisenbergsche Unschärferelation ist jedenfalls keine herabwürdigende Einschätzung der Schönheit junger Model-Mädchen.
Der Mensch unterscheidet sich von der Amöbe aufgrund seines Gehirns. Wer seine Neuronen reanimieren möchte, sollte Fernsehen und Internet ausschalten und den universellen Tipp aller Superreichen befolgen: Lies jeden Tag ein neues Buch. Und zwar keine Romane, sondern Sachbücher, Fachbücher und Biografien. Dann kann man richtig spüren, wie die eigenen Neuronen wieder zum Leben erwachen. Wenn es nicht schon zu spät ist. (Carsten Scheibe, Foto oben: Tanja M. Marotzke)
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