Scheibes Kolumne: Viel Spaß beim Live-Konzert
Musik ist toll. Musik ist einzigartig. Musik verbindet die Menschen. Und so tut man sich auch mit 50 Jahren noch den Stress an, auf ein Live-Konzert zu gehen. Gerade Berlin bietet sich dafür doch wunderbar an. Es gibt kleine, intime Clubs und gigantische Bühnen wie das Olympia-Stadion oder die Mercedes-Benz-Arena.
Da spielen dann die akustischen Helden der eigenen Jugend auf ihrer Abschiedstour noch einmal auf. Oder man hört sich das an, was aus den aktuellen Charts gerade zu gefallen weiß.
Klar ist nur eins – früher war die Leidensfähigkeit deutlich höher. Und so stehe ich heute mit knarrenden Bandscheiben und schmerzenden Knien in einer endlosen Schlange aus gleichfalls musikbegeisterten Fans, um bereits Stunden vor dem eigentlichen Event Einlass in die Halle zu begehren.
Hier spart man sich die Garderobe, um später am Ende der Show sofort den Konzertsaal verlassen zu können. Und so schwitzt man schon bald in der dicken Jacke im eigenen Muff. Denn natürlich landet man dicht vor der Bühne, um auch kurzsichtig wie ein Maulwurf noch etwas von den Musikern erspähen zu können. Und hat so viele Menschen ganz eng um sich herum, dass keine Sauna mehr Hitze erzeugen könnte.
Während aus dem Off irgendeine 08/15-Mucke dröhnt und auf der Bühne schwarzgekleidete Techniker mit Panzertape letzte Kabel auf dem Boden fixieren, geht der Verdichtungswettbewerb los. Immer mehr Leute drängeln sich mit dem Ellenbogen voran durch die dicht stehende Masse, um irgendwo weiter vorn noch eine Stelle zu finden, wo sie das Konzert über bleiben können. Dabei schleppen diese Verfechter der Brownschen Molekularbewegung meist mehr randvoll gefüllte Bierbecher zwischen vier Fingern mit sich durch die Menge, als für die bislang flüssigkeitsunversehrte Nachbarschaft gut ist.
Irgendwo zündet mit Sicherheit jemand mitten im Saal einen Joint an, sodass die grünlichen Schwaden schon bald wie Nebel durch die Massen schweben. Manche mögen den Geruch, mir wird davon übel. Aber schnell ist für olfaktorische Abwechslung gesorgt. Mein bulliger Nebenmann mit den vielen grimmigen Tattoos am Hals hat gerade einen Döner gegessen – mit viel Zwiebeln und Knoblauch-Soße. Ich weiß es genau, denn er atmet mir direkt ins Gesicht. Bei meinem Vormann ist der Döner schon ein paar Stunden her. Er atmet zum Glück in die andere Richtung. Aber er hat böse Flatulenzen. Oh Dreiklang der Gerüche.
Das Stehen strengt an, der Rücken krampft. Aber zum Glück ist nun die Vorband an der Reihe. In all den Jahren, in denen ich auf Konzerte gehe, habe ich nur einmal eine Vorband gesehen, die gut war. Der Rest, der sich da auf die Bühne wagt, ist die musikalische Weiterentwicklung von „Ich probiere‘s mal“. Die Akustik ist schlecht, die Performance mies, die Songs sind öde und überhaupt interessiert sich im Publikum niemand für die Leute auf der Bühne. Fast hat es den Anschein, als wird die Vorband nur gecastet, um die Hauptband anschließend besser aussehen zu lassen. Jedes Mal frage ich mich im Konzert, warum ich nicht erst zum Haupt-Act komme. Die Antwort ist klar: Weil ich sonst ganz hinten stehen müsste und nicht kurz vor der Bühne. Im Spiel „Wie viel Sardinen passen in die Büchse?“ hat eben der schlechte Karten, der als letzter zur Party erscheint.
Der größte Horror: Die Vorband hat endlich ein Einsehen und gibt auf. Und anstatt dass nun die eigentliche Band sofort mit dem Spielen anfängt, kommt es zur – Pause! Es muss schon wieder umgebaut werden. Und nach dem Umbau müssen die Soundleute noch einmal jedes einzelne Instrument in die Hand nehmen und ausprobieren. Kann man das nicht vorher machen? Warum gibt‘s da keinen nahtlosen Übergang? Warum denkt man sich nicht etwas aus, um die Massen in der Zeit zu unterhalten? Und wenn‘s ein Ratespiel ist: Wie viele Leute im Raum haben hellgrüne Unterhosen an? Und wer gar keine? So empfinde ich das halb- bis ganzstündige Warten als Diebstahl meiner Lebenszeit. Für den ich auch noch teuer bezahle.
Aber wenn dann natürlich Madness, AC/DC, Ultravox, Sophia, Neil Young, Fisher-Z, Silbermond, Sido oder Morcheeba auf die Bühne stürmen, ist alles vergessen. Auf einmal dröhnt der Bass, stimmt die Akustik, peitschen die Laserstrahlen durch das Dunkel, rotieren die Scheinwerfer, legen sich die singenden Stars voll ins Zeug.
Und genau in dieser Sekunde, wenn alles stimmt und einen das Live-Konzert für stinkende Nachbarn und schmerzende Knochen entschädigt, holen all die kleinen Mädels, hinter die man sich mit Absicht gestellt hat, um besser sehen zu können, ihre Handys heraus, öffnen die Foto-App, schalten die Videoaufnahme ein und recken anschließend die Faust in den Himmel, um das gesamte Konzert aufzunehmen. Auf einmal sehe ich nicht mehr die Bühne, obwohl mich nur acht Reihen von ihr trennen, dafür aber Dutzende kleiner Mini-Bildschirme. Letztens bei Angus und Julia Stone habe ich feststellen dürfen, dass ein iPhone 7S so ein scharfes Bild hat, dass es sich tatsächlich lohnt, das Konzert im Display des Gerätes vor mir weiter zu verfolgen.
Hab ich etwas vergessen? Na klar, Pogo-Tänzer bei Madness oder Die Antwoord, die einen ohne Vorwarnung von der Seite anspringen, sodass die Brille durch den Saal fliegt. Aber – die ersten Konzertkarten für 2018 sind schon wieder gekauft. (Carsten Scheibe, Foto oben: Tanja M. Marotzke)
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