Scheibes Kolumne: Eine Frage der Orientierung
Es gibt so viele Sinne. Schöne Sinne. Nur einen, den hab ich nicht. Und das ist der Orientierungssinn. Man braucht mich nur einmal im Kreis zu drehen – und schon laufe ich zielstrebig in die falsche Richtung. Bei meiner Mutter ist das nicht anders. Früher bei den Familienurlauben wurden meine Mutter und ich gefragt, wo denn unserer Meinung nach das Meer liegt.
Dann fuhr die Familie genau und zuversichtlich in die entgegengesetzte Richtung. Und war im Nu am Ziel. Leider hat meine Tochter diese leichte Desorientierung geerbt: Ein Wunder, dass sie jeden Tag nach der Schule wieder nach Hause findet.
In meiner Jugend war ich bei den Pfadfindern. Na klar, da bin ich dann einfach den anderen nachgetrottet. Immerhin konnte ich Zelte aufbauen und Feuer machen. Da war es den anderen Pfadfindern schon recht, den armen Trottel sicher durch Frankreichs Wälder zu führen. Ihre gute Tat des Tages.
In Berlin-West aufzuwachsen, hat die Sache stark vereinfacht. Ich konnte ja nichts verkehrt machen. Habe ich mich mit meinem ersten Auto, einem roten VW Derby, wieder einmal verfahren, so kam irgendwann die Mauer – und ich hab einfach gewendet und bin den Weg wieder zurückgefahren, den ich gekommen bin. Irgendwann kam eine Stadtautobahn – und große Schilder wiesen mir den Weg in die Heimat.
Doch irgendwann war die Mauer dann plötzlich weg. Das war ein echtes Problem. Denn dann fuhr ich und fuhr und fuhr. Und statt dem Berliner Kurfürstendamm kam auf einmal dieses mir bislang völlig unbekannte Schild: „Hamburg 10 Kilometer“. Zum Glück musste ich damals immer nur die gleichen Strecken fahren. In die WG nach Schöneberg. Zur Uni nach Berlin Dahlem. Zu meinen Eltern nach Zehlendorf. Mit der Zeit lernte ich diese Strecken auswendig und konnte sie „auf Autopilot“ abfahren. Leider war dieser Autopilot sehr dominant. Wie oft wollte ich eigentlich nach Hause fahren und wachte dann aus dem Autopilot-Modus wieder auf, als ich gerade mein Auto vor der Uni abstellte.
Klarer Fall: Ein Mann fragt NIE nach dem Weg – auch, wenn die Menschen um einen herum bereits anfangen, russisch oder portugiesisch zu sprechen (je nachdem, in welche Richtung man falsch abgebogen ist). Das gilt selbst dann, wenn der Tank gleich alle ist, man kein Geld dabei hat und die Nacht anbricht. Auch Faltstadtpläne sind ein Horror – ich habe sie nie kapiert.
Das neue digitale Zeitalter kaschiert meine Orientierungsausfälle. Niemand bemerkt mehr so richtig, dass ich fünf Meter von meiner Haustür entfernt nicht mehr weiß, wo ich bin. Vor jeder Fahrt schaue ich mir den Streckenverlauf auf Google Maps an – und schaue, ob mir einzelne Wegpunkte bekannt vorkommen. Dann programmiere ich mir das grobe Raster im Kopf ein: „Bei der Siegessäule geradeaus, dann am Brandenburger Tor vorbei, dann zum Alex, dann keine Ahnung mehr…“
Unterwegs ist mein mobiles Navisystem die perfekte Unterstützung. Ich vertraue meiner „Else“ blind und höre auf jedes Wort. Nur dieses nörgelige „Bitte wenden“ kann ich nicht haben. Dann muss sie schon einmal klarer sagen, dass sie DIESES Rechts beim Abbiegen meinte – und nicht das andere. Kritisch wird es nur, wenn ich aus Versehen das falsche Ziel angekreuzt habe. Ob ich nun nach Prenzelberg oder nach Klein Machnow fahre, merke ich doch erst, wenn ich vor Ort angekommen bin – oder eben nicht.
In letzter Zeit macht sich übrigens auch das Alter bemerkbar. Konnte ich früher im Dunkeln sehen wie ein Luchs, so ist für mich heute in der Nacht alles schwarz. Noch schlimmer: Selbst vertraute Umgebungen sehen plötzlich aus, als wäre ich noch nie dort gewesen. Das ist ganz schön unheimlich. In solchen Situationen kann ich nur dafür beten, dass der Akku im Smartphone hält und so das Navisystem am Leben hält. Sonst finde ich nie mehr nach Hause. (Carsten Scheibe)
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