Scheibes Kolumne: Aufgewachsen in Zehlendorf
1967 wurde ich in Berlin-Zehlendorf geboren, im Waldkrankenhaus direkt gegenüber vom Bahnhof Krumme Lanke. Wie war das eigentlich, in dieser Zeit in Zehlendorf aufzuwachsen? Ganz klar: Ein Abenteuer. Als kleine Knirpse waren wir aus der Bruno-Taut-Siedlung zwischen Onkel-Tom- und Riemeisterstraße alle mit Taschenmessern bewaffnet.
Die brauchten wir, um in sämtlichen Nachbargärten den Bambus zu fällen. Nur der ergab perfekt gerade Speere. Mit denen bewaffnet ging es auf ins Fischtal oder auf die Rodelbahn, um zu schauen, wer sie weiter werfen kann. Danach liefen wir zur Mutprobe ins Riemeisterfenn – wer kann im Moor am besten über die umgestürzten Bäume balancieren, ohne im Morast zu landen? Oder wer traut es sich, die schiefe Birke in der Siedlung bis ganz nach oben zu klettern, sodass man bis aufs Dach der dreistöckigen Häuser linsen kann?
Äpfel klauen beim laut hinter uns herbrüllenden Opa, Bonbons für zwei Pfennig das Stück in der Ladenstraße kaufen, ein Floß bauen für eine Überfahrt in der Krummen Lanke und am Vierling mit den blanken Fingern schnappende Flußkrebse aus Höhlen fischen: Eigentlich waren wir immer unterwegs. Unsere besten Funde: Eine Kiste mit Glasaugen im Müllcontainer. Und einmal fanden wir einen unglaublich schweren MG-Gürtel mit Übungsmunition der Amerikaner, den diese im Wald verschusselt hatten. Unsere humorlosen Mütter haben uns die schönen Patronen dann aber leider abgenommen. Wir sahen sie nie wieder.
Aber: Wir waren als Kids den ganzen Tag draußen – es gab ja auch nur drei Fernsehprogramme (plus die zwei aus dem Osten), keine Computer, keine Handys. Nach Hause ging es, sobald es dunkel wurde.
Später als Teenager war es nicht minder aufregend in Zehlendorf. Jeden Freitag sind wir mit dem Fahrrad ins Haus Teltow geradelt, zum Abfeiern in der Jugenddisco „Floyd“ – Eintritt eine Mark. Hier haben wir uns die Ohren für immer versaut, weil wir es als lustig empfanden, uns mit dem Kopf in den Bass-Hohlraum der mannshohen Lautsprecher zu legen. Später ging es in Zehlendorf Mitte über den Dächern der Stadt weiter: Nachts zu New Orders „Blue Monday“ abhotten im Tolstefanz. Das ist leider ebenso nicht mehr da wie die große Eis-Henning-Filiale schräg dadrunter. Hier traf sich damals die halbe Schule auf ein Eis. Die meisten von uns hatten da auch ihren ersten Job.
Ich nicht. Ich war Friedhofsgärtner auf dem Friedhof, der gleich gegenüber der Freifläche war, wo früher das Deutsch-Amerikanische Volksfest abgehalten wurde. Heute sind da Wohnhäuser. Damals nahm sich ein Freund einen ausrangierten Grabstein mit nach Hause – als Resonanzverstärker für seinen Vinyl-Plattenspieler.
Meine Schule war das Werner-von-Siemens-Gymnasium, 15 Minuten strammes Radeln von der Onkel-Tom-Straße entfernt. Einmal hab ich es geschafft, die ganze Strecke freihändig zu fahren, inklusive der Kurven – natürlich mit einem Sony Walkman an der Hüfte und Bügelkopfhörern auf den Ohren. Auf der gleichen Strecke habe ich es aber auch geschafft, mich so vom Rad zu werfen, dass ich im Krankenhaus Oskar-Helene-Heim genäht werden musste. Die Narbe hab ich immer noch über dem Auge. Als ich nach Hause kam, rief meine Mutter in den Hausflur hinunter: „Da hat eben jemand angerufen, du seist im Krankenhaus. Na, dem hab ich aber was erzählt.“
Die Schule sieht heute noch so aus wie damals. Nur: Damals kamen in jeder Schulpause erst der Pizzawagen und dann das Eismobil bimmelnd vorbei. Eine perfekte Ernährung für hungrige Schüler, die keine Lust auf ihr Pausenbrot hatten.
Die besten Parties gab damals ein Schulfreund, der wohnte so weit draußen in Wannsee, dass er sein Zuhause wie folgt beschrieb: „An der letzten Laterne links rein und dann gleich das dritte Haus rechts.“ Haben wir immer gefunden. Nur taten die Waden immer tierisch weh, wenn wir endlich per Fahrrad bei ihm eintrudelten. Tanzen war dann nicht mehr ganz so angesagt. Wir waren eh viel schärfer auf VHS-Videos. Der ältere Bruder eines Kumpels besorgte sie uns immer ganz nach Wunsch. Am liebsten Gruselschocker wie „Ein Zombie hing am Glockenseil.“
Zum Glück wurden wir älter und durften irgendwann Auto fahren. Meinem Freund Fabian brachte ich das Rasieren bei. Zum Dank fuhr er uns im Benz seiner Mutter nach Berlin zum Feiern – meist ins „Linientreu“. Bis er trotz Verbot im Auto rauchte, die Kippe verlor, sich während der Fahrt danach bückte und fünf oder sechs parkende Autos seitlich wegrasierte. Danach war Schluss mit dem Fahrservice.
Dafür hatten wir dann Andreas. Der trank und rauchte nicht und wurde von jedem angepflaumt, was er denn für eine abstinente Mimose sei. Bis wir erkannten, dass er doch der perfekte Fahrer nach jeder alkoholseligen Party war. Fünf Mark kostete uns der Fahrdienst, Andreas war nämlich sehr geschäftstüchtig. (Carsten Scheibe)
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